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Black Water Rising von Attica Locke - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Black Water Rising 


von Attica Locke


Der Anfang: 

Das Boot ist kleiner, als er es sich vorgestellt hat. Und schäbiger.

Selbst bei Nacht kann Jay sehen, dass es einen Anstrich braucht.

Das ist ganz und gar nicht das, was vereinbart war. Der Typ am Telefon hat was von »Mondscheinfahrt« gesagt. Die Lichter der Stadt und so weiter. Jay hat sich was Hübsches mit ein bisschen Romantik vorgestellt, wie die Vergnügungsdampfer auf dem Lake Pontchartrain in New Orleans, nur kleiner. Aber das Ding da ist bestenfalls ein aufgemotztes Fischerboot. Es ist flach und breit und hässlich – ein übertrieben herausgeputzter Kahn, wie ein dickes Mädchen, das zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal zum Schulball eingeladen ist. Überall hängen Lichterketten, sogar die Kajütentür rahmen sie ein.


Das ist mal wieder ein hervorragender Thriller! Anfang der 1980-er in Houston: Jay Porter, ein junger Anwalt ,Anfang dreißig, der sich als Strafverteidiger mit Kleinkram gerade über Wasser hält, muss seiner schwangeren Ehefrau Bernie endlich mal ein Geschenk zum Geburtstag machen, das über die Idee zur Einladung in ein mittelprächtiges Restaurant hinausgeht. Eine romantische Mondscheinfahrt auf dem Buffalo Bayou mit Picknick an Bord. Der alte Kahn entpuppt sich eher als Schrottkiste und der Kaptein hat seinen Cousin als Bootsführer geschickt – der keinen Führerschein besitzt. Egal, sie lassen sich die Laune nicht verbieten. Sie wollen sich gerade über die Schokoladentorte hermachen, als ein Schrei und ein Schuss durch die Nacht gellen, ein zweiter und kurz darauf ein Platschen im Wasser ganz in ihrer Nähe. Jay springt in das ölschwarze Wasser, rettet eine Frau. Eigentlich müssten sie die Polizei rufen. Dem Bootsführer ist das nicht recht, da obendrauf das Boot keine Lizenz für Nachtfahrten hat. Auch Jay möchte nichts mit der Polizei zu tun haben, er wurde während seiner Collegezeit als Bürgerrechtsaktivist für den Black Power verhaftet, ungerechtfertigt angeklagt und er weiß als Farbiger, dass man schnell in etwas von der Polizei hereingezogen wird, mit dem man nichts zu tun hat. Sie einigen sich darauf, die unbekannte Frau, die nichts über die Geschehnisse erzählen will, vor dem Polizeirevier abzusetzen, ihre Entscheidung, ob sie hineingeht oder nicht.


Vor langer Zeit hatte Jay beschlossen, nicht wie sein Vater zu werden. Er würde am Leben bleiben, um seinen Sohn kennenzulernen. ... Schon damals dachte er, dass er die A...löcher erschießen würde, bevor er sich von ihnen anspucken ließ. Er wollte mehr als nur bürgerliche Freiheiten, wofür sie in den Anfangszeiten der Bürgerrechtsbewegung kämpften. Jay träumte davon, frei denken zu können, frei zu sein von der Furcht seines Vaters, die diesen seine Seele und sein Leben gekostet hatten.


Kaum zu Hause angekommen, wird er zu seinem Schwiegervater zitiert, ein Reverend, der ihm aus seiner Gemeinde stets kleine Fälle zuschanzt – Klienten, die natürlich kein Geld haben, um den Anwalt zu finanzieren. Die Hoffnung, den Fall zu gewinnen, aus der Entschädigung sein Honorar zu ziehen, steht hier im Vordergrund. Der Reverend ist in die Szene der schwarzen Hafenarbeiter involviert; ein Streik steht bevor, die schwarzen Hafenarbeiter verlangen mehr Gehalt und Gleichstellung mit den Weißen. Innerhalb der Gewerkschaft gibt es deshalb Stress, eine Gruppe der Weißen bedroht die schwarzen Aktivisten, verprügelt sie, um den Streik zu verhindern. Porter soll mit der Bürgermeisterin reden, die er aus Collgetagen gut kennt; sie soll vermitteln. Sie war damals als einzige Weiße Mitglied der Black Power Bewegung. Er ist raus aus der Aktivistenszene, seit man Jay damals angeklagt hatte; für ihn zählt seine Familie, sein Job, für den er hart arbeiten muss. Es ist nicht mehr sein Kampf. Die Bürgermeisterin hatte schon lange die Seiten gewechselt. Doch einem Schwiegervater kann man nur schwer widersprechen. Und Jay wird neugierig, als er durch die Presse vernimmt, dass am Buffalo Bayou ein Mann erschossen wurde. Ist die Frau, die er gerettet hat, eine Mörderin?


Falls sie ihre politische Erweckung suchte, nur zu, aber nicht bei ihnen. Außerdem waren Frauen damals noch Tussis, die vor den Treffen Hühnerflügel brieten, Bier besorgten und auf den Protestmärschen auf dem Campus ein paar Schritte hinter den Männern gingen. Wenn seine schwarzen Brüder sie nicht verjagt hätten, dann sicher die Schwestern. Nie im Leben hätten sie einer Weißen den Vortritt gelassen.


Die Handlung entrollt sich vor dem Hintergrund steigender Ölpreise und gewerkschaftlicher Unruhen in Houston. Die Hafenstadt wuchs damals schnell. Zu schnell, war auf der Grundlage von Öl gebaut worden, und die Öl-Magnaten hielten die Hand in den Händen. Keine wichtige Entscheidung wurde ohne ihre Zustimmung getroffen. Und es gibt einen Rückblick in das Leben von Jay. Ein Roman mit politischen Untertönen und Rassenkonflikten, bei dem Attica Locke unaufgeregt die Themen in die Handlung einspielt. Schrittweise enthüllt sie ihre komplexe Geschichte, spielt Handlungsstränge zusammen, dass mit einer ausgefeilten Erzählweise und einem feinen literarischen Stil. Die Figuren sind authentisch, widersprüchlich und eben genau darum glaubwürdig. Darüber hinaus zeichnet Locke ein scharfes Porträt von Houstons Stadtteil Third Ward Anfang der Achziger, einem Ort, an dem der politische Aktivismus der «People’s Party II» für soziale Gerechtigkeit kämpfte. Spannung und Prosa im Einklang, ein Gefühl für ein historisches Setting machen diesen Noir-Thriller zum Leseerlebnis. Kriminalliteratur auf hohem Niveau! Meine Empfehlung. 


Attica Lockes Roman «Pleasantville» hat 2016 den Harper Lee Prize for Legal Fiction gewonnen. Ihr erster Roman, «Black Water Rising», wurde für einen Edgar Award, einen NAACP Image Award sowie einen Los Angeles Times Book Prize nominiert und stand auf der Shortlist für den Women‘s Prize for Fiction. Ihr zweites Buch, «The Cutting Season», ist Gewinner des Ernest Gaines Award for Literary Excellence. Locke war zuletzt Autorin und Produzentin der Fox-Serie «Empire». Sie ist Mitglied des Vorstands der Library Foundation of Los Angeles, stammt aus Houston, Texas, und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Los Angeles, Kalifornien.



Attica Locke
Black Water Rising
Originaltitel: Black Water Rising
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Mit einem Nachwort von Peter Henning
Thriller, Kriminalliteratur, literarischer Thriller, Noir-Thriller, amerikanische Literatur
Gebunden, mit Schutzumschlag, 456 Seiten
Polar Verlag, 2021




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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