Direkt zum Hauptbereich

Aus der Balance von Megan Abbott - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing

 


Aus der Balance 


von Megan Abbott



All die Jahre, all die Knochensporne und Labrumrisse, die Ermüdungsbrüche und Sehnenabrisse. Die seinen Körper zu feinem Pulver zermahlten. Er gestattete sich nicht, es zu fühlen.


Zugegeben, Ballett hat mich nie interessiert – doch dieser Kriminalroman ist lesenswert! Mir hat vor langen Jahren eine Freundin ihre Füße und Waden gezeigt, deren Anblick mich erschreckt hatte. Sie hatte von 4-12 Jahren Ballett getanzt. Dann war sie zu athletisch geworden, und Mamas Traum war geplatzt. Dieser Kriminalroman bringt schonungslos die Seifenblase um rosafarbene Tutus und Ballettträume zum Platzen, indem er die gnadenlose Schufterei dieser Kunstrichtung offenlegt. Eine geschlossene Gemeinschaft, die eigenen Regeln und Gesetzen folgt. Ehre und Ruhm, Neid, Boshaftigkeit, Verrat – Schuhspitzen behämmert, kaputte Zehen, blaue Nägel, hinknallen auf den Boden, später diverse Probleme mit den Füßen, mit dem Skelett, der Wirbelsäule, den Körper kaputtgeschuftet. Der Ballettsaal einer Schule ist hier das Setting, mit «Schweiß und Pubertät», der Geruch von «Urin und Angst» – geschundene Körper, zerplatzte Träume. Alles beginnt mit einem Brand. 


‹Ich sag’s dir», erzählte sie Charlie, sobald er aufgewacht war, «er saß in dem Auto und hat uns beobachtet. Er spioniert uns aus.› …

‹Ich weiß nicht› sagte Charlie, die Stirn gerunzelt. ‹Er hat mir ein paar Fragen zum Haus gestellt. In welchem Jahr es gebaut wurde. Ob wir je darüber nachgedacht haben, es zu verkaufen. So was eben.›


Die Mutter, eine ehemalige Starballerina, hatte die Ballettschule eröffnet – sie und ihr Mann waren bei einem Autounfall verstorben. Die beiden Töchter und ein Ziehsohn – alles Balletttänzer – führen nun die Schule weiter, wohnen im Haus der Familie, ein großer Prachtbau, der seine besten Jahre hinter sich gelassen hat. Charlie und Dara heirateten, Marie wohnte bei ihnen und es gibt zwischen den Dreien eine besondere Beziehung und ein Familiengeheimnis. Marie hatte sich irgendwann auszahlen lassen und war verschwunden. Sie ist nun zurück, gibt wieder Unterricht, schläft auf dem Dachboden der Schule – ein Bereich, der früher der Rückzugsort der Mutter war. Diese Mutter, deren Duft immer noch in allen Räumen hängt, deren Präsenz in den Köpfen des Trios einen breiten Platz einnimmt. Brand entsteht in der Schule, der zwar gelöscht werden konnte, jedoch in einer Etage großen Schaden hinterließ. Sie sind versichert und es gibt Baufirmen, die dies reparieren können. Nun tritt der Bauunternehmer Derek in das Leben der drei Tänzer:innen. Ein smarter Typ, der alles im Griff hat. Baustellen machen Lärm und Dreck, natürlich, aber warum wird er nicht fertig, schafft immer neue Probleme? Und was will er wirklich?


Sechs Jahre nachdem er hatte aufhören müssen, waren seine Füße immer noch Tänzerfüße. Hart und knorrig und hufähnlich. Aber nicht halb so zugerichtet wie ihre, hässlich wie die einer Krähe … Jolie-laide, hatte ihre Mutter immer behauptet. Für sie waren alle Tänzerfüße schön, schön und nicht trotz, sondern wegen ihrer Härte, ihrer Verkrümmungen, ihres Kampfes gegen die Natur, gegen den Körper selbst. Was könnte schöner sein, hatte sie immer gesagt, als so ein Wille?


Der Schmerz ist der Freund eines Tanzenden, denn nur auf diese Weise lernt man zu fühlen, alles zu geben. Während der Bauphase läuft der Schulbetrieb weiter und der Lesende bekommt einen Einblick ins Tanzen mit allen Sinnen, man hört förmlich die Ballettschuhe auf dem Holz, riecht den Schweiß, die Kotze und alles, was dazugehört. Wir blicken in die Seelen des Trios, blicken zurück in ihre gemeinsame Kindheit, hinter der sich ein Geheimnis verbirgt. Familiengeschichten, und das Mantra der Mutter, die erzählte wie die Anhänger der bedeutenden Ballerina Marie Taglioni ein Paar ihrer Ballettschuhe ersteigerten: «Nach dem Erwerb kochten sie die Spitzenschuhe, richteten sie an und aßen sie mit einer besonderen Soße.» Das sei wahre Liebe, schwärmte die Mutter, die Liebe auf ihre Art definierte. Während der Bauarbeiten trainieren die Ballett-Kinder für die jährliche Nussknacker-Aufführung und stehen in Konkurrenz der zu vergebenen Rollen – einschließlich ihrer ambitionierten Mütter. Und als klar ist, wer die Hauptrolle der Klara erhält, wird die ‹Siegerin› traktiert. Rasierklingen liegen in ihren Ballettschuhen, eine tote Ratte in ihrem Umkleideschrank, man lästert hörbar über sie. 


Eine spannende Kriminalgeschichte voller Schmerz in den Körpern, in den Seelen. Atmosphärisch gestaltet mit allen Sinnen, ein interessantes Setting, eine verhängnisvolle Familienbande, Missbrauch, Machtmissbrauch, ein psychosoziales Netz aus Macht und dunkler Weiblichkeit. Eine Klasse Kombination, die auch für Lesende mitreißend ist, die eigentlich kein Interesse am Ballett verspüren – so wie ich. Denn das hier geht tief in die Figuren hinein. Ballett kann hier für viele Sportarten stehen, die extreme Hingabe, die ehrgeizigen Mütter, zerschundene Körper und Seelen. Empfehlung! 




Megan Abbott
Aus der Balance
Aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig und Angelika Müller
Kriminalroman, Balett, Der Nussknacker
Taschenbuch, 416 Seiten
Pulp Master Verlag, 2023





Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo