Rezension
von Sabine Ibing
Auf der anderen Seite lauert was
von Jon Agee
Der erste Satz:
Mitten im Buch steht eine Mauer.
Auf der ersten Doppelseite die Mauer in der Mitte: links ein kleiner Ritter mit Leiter – rechts ein Nashorn und ein Tiger, die die Mauer bestaunen, ratlos dreinblicken. Warum gibt es die Mauer, fragt man sich. Aber der kleine Ritter erklärt uns: «Und das ist gut so.» Aber dieser kleine Schelm versucht gerade, mit seiner Leiter hinüberzublicken. Er ist also neugierig! Wer hat ihm bloß erzählt, dass es auf der anderen Seite gefährlich ist? Na gut, der wilde Tiger probiert gerade, auf die andere Seite zu kommen – die Mauer wird ein Schutz sein. Genau darüber klärt uns auch der Ritter auf. Oh, zu seinen Füßen ist alles nass, man gut, dass er die Leiter hat.
Auf dieser Seite ist es sicher,
erklärt uns der kleine Mann – auf der anderen Seite rennen gerade die wilden Tiere vor einer Maus weg. Und, so erfahren wir von dem Jungen: Auf der anderen Seite wohnt ein gefährlicher Menschenfresser Oger! Man gut, dass es die Mauer gibt. Während der Ritter nach oben klettert, steigt unter seinen Füßen das Wasser an, ein Krokodil nähert sich und schnappt sich die Ente. Oh, oh! Oger nebenan unterhält sich mit der Maus – horcht an der Wand. Das Wasser steigt links, der Ritter fällt ins Wasser – die Hand des Riesen greift nach ihm.
Links passieren böse Dinge – aber rechts, oh Schreck, denkt der Junge – jetzt frisst mich der schreckliche Oger auf! Der amüsiert sich darüber köstlich. Er soll schrecklich sein und diese Seite vom Buch? Schrecklich lachen muss er darüber. Der kleine Ritter überlegt. Soll er wirklich mitgehen? Er läuft hinter dem Oger her und hat viel Spaß mit den netten Tieren. Vorurteile, auf der anderen Seite die Gefahr. Allerdings ist der kleine Ritter neugierig, will sich selbst überzeugen, ob es richtig ist, was man so munkelt – sonst würde er ja nicht auf die Leiter klettern. Das Buch hat eine Message: Glaube nie, was man dir erzählt. Überprüfe die Aussagen und bilde dir eine eigene Meinung. Und dazu gehört natürlich auch, dass manches, was man dir über andere Menschen mitteilt, nicht wahr ist. Angst vor dem Fremden lebt in uns allen. Eine Urangst, die nicht falsch ist. Oft ist sie aber unangebracht. Auf andere zugehen, sich selbst überzeugen.
Letztendlich steckt jedoch auch die Message dahinter, dass man in der eigenen Community die Gefahr nicht übersehen darf. Manchmal ist die eigene Familie gefährlicher als der vorgeblich bedrohliche arabische Nachbar. Das Bilderbuch braucht nicht viel Worte. Ziemlich witzig und eindringlich widerlegt die Zeichnung die Aussage des Jungen, ohne, dass er selbst merkt, was unter ihm im Wasser vor sich geht. Links die vermeintlich sichere Seite – rechts die sogenannte unheilvolle Seite – der Leser ist in die Geschichte eingebunden, sieht die Bedrohung links, hofft, dass es der kleine Ritter rechtzeitig auf die andere Seite schafft. Das Kinderbuch ist in zarten Farben gestaltet, in der Mitte die Mauer. John Agees Grafiken sind einfach strukturiert, klar zu erfassen, nichts lenkt von den wichtigen Elementen ab. Ein Buch, mit dem man vieles diskutieren kann, denn die Mauer steht hier ja nur symbolisch – fakenews. Die Message, die dahintersteckt, verstehen bereits kleine Kinder. Der Verlag Dragonfly empfiehlt das Buch ab 3 Jahren. Das ist für mich in Ordnung. Das Bilderbuch wird von Amnesty International empfohlen. Von mir auch.
Jon Agee ist Autor, Illustrator, Cartoonist, Dramatiker und Librettist, mit einem Fable für Palindrome. Er wuchs am Hudson River in Nyack, New York, auf und dachte sich schon als Kind Bilderbücher, Detektiv-Comics und Daumenkinos aus. Er studierte in New York City Malerei und beschäftigte sich dabei auch viel mit Animation. Seine Bücher wimmeln von skurrilen Figuren, sind manchmal schrullig, verrückt, satirisch und immer humorvoll. Ihr raffinierter Witz spricht Kinder und Erwachsene gleichermaßen an
Auf der anderen Seite lauert was
Originaltitel: The Wall in the Middle of the Book
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ebi Naumann
Kinderbuch, Bilderbuch, Vorurteile
Gebundene Ausgabe, 48 Seiten, 22 x 29.7 cm
Verlag Dragonfly, 2021
Altersempfehlung: ab 3 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
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