Direkt zum Hauptbereich

Arminuta von Donatella di Pietrantono - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Der erste Satz: Als Dreizehnjährige kannte ich meine andere Mutter nicht mehr.

Arminuta, auf Deutsch die Zurückgekommene, man nennt sie so, denn die Dreizehnjährige kommt zurück in ihre Ursprungsfamilie. Mit einem Koffer voller Kleider, einem Sack voll Schuhe steht sie in der Küche der anderen Familie. Ihr Vater macht sich schnell von dannen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keine Ahnung, dass ihre wirklichen Eltern in dieser Wohnung im Dorf wohnen – dass sie überhaupt noch andere Eltern hat.


 Die Frau, die mich geboren hatte, stand nicht von ihrem Stuhl auf.

Hier kämpft man am Tisch um jeden Krümel

Aufgewachsen als Einzelkind in einem wohlhabenden Elternhaus in der Stadt am Meer, mit guter Schulbildung ausgestattet, steht sie nun hier zwischen Geschwistern, die sie begaffenden, mitten in einer unbekannten Familie, Schmutz und Armut ist unverkennbar. Sie versteht die Welt nicht mehr. Die Mutter war krank, diese erste Mutter, und nun ist das Mädchen ohne Erklärung im Sommer 1975 hier abgegeben worden. Was ist passiert? Sicher wird die Mutter sie zurückholen, sobald sie gesund ist. – Das wird nicht geschehen. – Das schmale Bett teilt sie mit Adriana, Kopf an Fuß, mit einer Schwester, die nachts auf die Matratze pinkelt. Zu essen gibt es nicht viel. Schnell hat das Mädchen heraus, dass man zunächst an der Schüssel zu kämpfen hat und danach das Karge auf dem Teller verteidigen muss, schnell essen, bevor eine Heerschar von Gabeln danach langt. Sie möchte auf die höhere Schule gehen. Wird das je möglich sein? Und was ist damals geschehen, warum wuchs sie bei Verwandten auf? Warum musste sie hierher zurückkehren? Ihre neue Familie, Vater, Mutter, Schwester, mehre Brüder, ein kleiner behinderter Bruder, der noch ein Säugling ist, beachten sie überhaupt nicht. Sie ist einfach da.

Jeden Abend lieh sie mir eine Fußsohle, um sie an meine Wange zu halten. Sonst hatte ich nichts, in dieser von Atem bevölkerten Dunkelheit.

Die Distanz wird immer bleiben

Nüchtern, aber doch mit viel Poesie und Einfühlungsvermögen erzählt Donatella di Pietrantono aus der Sicht eines Mädchens, dessen Welt von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wird. Fassungslos, da ihr niemand etwas erklären will, passt sie sich schnell den Gegebenheiten an, gibt aber nicht auf, Antworten zu erhalten. Verlassen von den Eltern, von einem Tag zum nächsten, verlassen von den anderen Eltern schon lange zuvor, muss sie den Tag überstehen, nachts allein, die Füße der Schwester an die Wange gehalten, damit sie spürt, dass sie nicht ganz allein auf der Welt ist. Der eigene Strandkorb am Meer, Schwimmtraining, Ballettunterricht, Privatschule, alles verloren. In dieser Familie wird sie immer die Arminuta bleiben, die, die nicht kochen kann, nicht hart arbeiten. Aber gleichzeitig nimmt ihr das niemand übel, denn sie ist die Besondere in der Familie, gebildet, feiner als die anderen, alle sind in gewisser Weise stolz auf sie. Eine schroffe Herzlichkeit kommt ihr entgegen. So geht man hier miteinander um, lernt sie. Man zeigt seine Zuneigung auf andere Weise. Sprachlich genau zeichnet die Autorin die Annäherung zwischen Familie und dem Mädchen, niemals wirkt die Sprache kitschig. Die Distanz wird immer bleiben, auch das macht sie deutlich. Arminuta, ein kämpferisches Mädchen, das Kraft aus den Geschwistern schöpft und niemals aufgibt. Italien Ende der Siebziger, diese Familie ist die ärmste im Dorf, der Klassenunterschied wird sogar in diesem Mikrokosmos deutlich. Sprache und Bildung prägen die Kinder. Auch wenn der Vater in der Ziegelfabrik arbeitet, die größeren Kinder als Tagelöhner schuften, die Mutter hin und wieder etwas dazuverdient, reicht es vorn und hinten nicht. Eine Gesellschaft, die dem Samen der Mafia guten Boden lieferte. Die Geschichte ist sicher eine von vielen realen Lebensläufen. Denn früher haben kinderreiche Familien in Italien, denen es an Geld fehlte, ihre Kinder oft in die Obhut von kinderlosen Familien gegeben. Win win für beide Seiten. Allerdings, wenn es aus den verschiedensten Gründen den Pflegeeltern nicht mehr passte, dies Kind bei sich aufwachsen zu lassen, gab man sie einfach zurück. Wem Elena Ferrante gut gefallen hat, der wird diesen Roman auch mögen. Eine wundervolle Erzählung.

Sie bückte sich, um unter dem Spülbecken zwischen vollen und leeren Flaschen, Mülleimer und Schlupflöchern von Küchenschaben etwas zu suchen. Dann zog sie den Vorhang über den Geruch nach Schimmel wieder zu und drehte sich um.

Donatella Di Pietrantonio wurde in den Abruzzen geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara.
Ihre Romane »Meine Mutter ist ein Fluss« und »Bella mia« wurden mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet.

Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

  Der neue Assistent der Ostberliner Plankommission, Grischa, soll sich um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan kümmern. Genosse Burg, der Chef, erklärt das Problem: «Die Afghanen haben nichts.» Grischa ist kreativ, bricht in die Monotonie der alten Männer ein, vor Arbeitskraft strotzend, und er äußert eine verwegene Idee. Grischas Chef kommt aus dem Staunen nicht raus, ebenso die greisen Minister im Zentralkomitee: Wir lassen die Genossen in Afghanistan Medizinalhanf produzieren, den wir an die Bürger der BRD gegen kräftige Devisen verkaufen. Ein Schelmenroman, eine coole Persiflage, die satirisches Licht in diese Angelegenheit bringt, auf jeden Fall gute Unterhaltung. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox