Direkt zum Hauptbereich

An das Wilde glauben von Nastassja Martin - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



An das Wilde glauben 


von Nastassja Martin 


Der Anfang: 

Der Bär ist seit ein paar Stunden weg, und seitdem warte ich, ich warte darauf, dass der Nebel sich auflöst. Die Steppe ist rot, die Hände sind rot, das geschwollene, zerrissene Gesicht gleicht sich nicht mehr.


Der Prosa-Roman basiert auf eine wahre Begegnung. Die autobiografische Erzählung beschreibt die Auseinandersetzung mit sich selbst nach einem einschneidenden Erlebnis: Auf einer Forschungsreise wird die 29-jährige Anthropologin Nastassja Martin in den Wäldern Kamtschatkas von einem Bären angefallen und schwer verletzt. Ihr Kopf steckt im Schlund des Bären, er beißt zu, sie hört ihren Kiefer knacken, wehrt sich mit ihrem Eispickel – und dann lässt der Bär sie frei, macht sich von dannen. Wie durch ein Wunder überlebt Nastassja. Die Wissenschaftlerin hält sich monatelang in den dünnbesiedelten Vulkanstümpfen der russischen Halbinsel Kamtschatka auf, um die Kultur der Einwohner zu studieren, die ewenischen der Rentierzüchter, die fern der Zivilisation eine eigene Lebensart entwickelt haben. Als Naturwissenschaftlerin hat sie Verständnis für den Bären, aber als Opfer wird sie dem Bären niemals verzeihen. Der Kampf mit dem Bären hat ein Trauma ausgelöst, das Nastassja Martin hin und her wirft. Sie hat überlebt – nur wie wird sie aussehen, wenn die Verbände gelöst sind und wie viel Bär steckt nun in ihr selbst? Die lange Zeit im Krankenhaus lässt sie erinnern und fantasieren – Nature Writing, Wissenschaft, Angstbewältigung, Autobiografie – eine interessante Mischung von allem.


Was macht dieser Bär aus ihr?

Sie können es nicht fassen. Nastjenka liest, fünf Tage, nachdem sie aufgewacht ist, fünf Tage nach ihrem Kampf mit dem Bären liest sie. Und noch dazu Witze!


Mensch und Tier – die Berechtigung zu leben, zu jagen, Angreifer abzuwehren, alles das, was den Naturkreislauf ausmacht, ist logisch. Doch welches Gefühl durchzieht dich, wenn du einem solchen Angriff entgegenstehst, ihn überlebst? Kann das Raubtier Mensch einem tierischen Raubtier verzeihen? Lange liegt Nastassja Martin in einem russischen Krankenhaus, zusammengeflickt, verbunden, sie wird durch Schläuche ernährt. Als sie transportfähig ist, wird sie in eine französische Klinik geflogen, die sich schönheitschirurgisch ihrem Gesicht widmet. Einen Teil ihres Kiefers hatte der Bär fortgetragen. In ihren Gedanken beschäftigt sich die Anthropologin mit dem was sein wird, was war, mit der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur. Ihre ewenischen Freunde helfen ihr, ihr Trauma zu überwinden. 


Im Einklang mit der Natur 

Ich denke an meine eigene Geschichte. … An den Kurs des Bären, an seine Zähne, die sich über mein Gesicht schließen, an meinen krachenden Kiefer, meinen krachenden Schädel, an die Dunkelheit die in seinem Maul herrscht, an seine feuchte Wärme und seinen stark riechenden Atem, an das Nachlassen des Drucks seine Zähne, an meinen Bären, der es sich plötzlich auf unerklärliche Weise Anders überlegt, seine Zähne werden nicht die Werkzeuge meines Todes sein, er wird mich nicht verschlingen.


Die Ewenen, sehr eng mit Pflanzen und Tieren verbunden, erklären ihr, sie sei nun eine «miedka», «vom Bären gezeichnet» und sie sei nun halb Mensch, halb Bär. Sie sei ein Geschenk, weil der Bär sie am Leben ließ. Es ist eine beeindruckende Erzählung, die eine Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur beinhaltet, die wilde Natur in Kamtschatka beschreibt und die Lebensweise der Ewenen, die im Einklang mit der Natur leben. Gleichzeitig ist es eine Aufarbeitung der Ängste eines Menschen, der ein solches Erlebnis verkraften muss: Werde ich jemals wieder richtig meinen Kiefer gebrauchen können, wie werde ich später einmal aussehen, was wird von meiner Seele übrigbleiben? Nastassja Martin ist eine taffe Frau und das Buch ist lesenswert, auch wenn manche Passagen für meinen Geschmack ein wenig lang ausgewalzt sind. Die Narben akzeptieren – aber dem Bären niemals verzeihen!


Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.



Nastassja Martin 
An das Wilde glauben
Originaltitel: ‎ Croire aux fauves
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer
Erzählung, Prosa, Nature Writing, Kamtschatka, Autobiografie, französische Literatur, Bären, Wildnis
Gebunden, 139 Seiten
Matthes und Seitz, 2021



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans 

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...