Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees - Rezension
Rezension
von Sabine Ibing
Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen
von Lutz Karnauchow und Petra Thees
Aber im Ernst: Die Pflege in Deutschland hat kein Problem. Sie ist das Problem. Es liegt nicht am Geld. Es hat nichts mit dem Fach-kräftemangel zu tun. Es geht nicht um Strukturen und Prozesse. Die Ablehnung, die das Pflegesystem von allen Seiten erfährt, gründet auf Gedanken und Gefühlen. So wie bei einem Eisberg nehmen wir nur die Spitze wahr. Unser Unbehagen zum Beispiel, wenn wir uns mit dem Thema Pflege beschäftigen müssen. Doch leider reicht der Eisberg weit tiefer. Er ist ein Gigant aus Vorurteilen, Klischees und negativen Assoziationen, aus Ängsten, Grübeleien und dummen Sprüchen. Es ist der Eisberg der Altersdiskriminierung.
Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Ein Aufruf zum Umdenken von zwei Pionieren der «Pflege von morgen». Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow bewegen die Themen Alter und Altenpflege bereits seit Jahrzehnten. Ende der 90er Jahre erkennen sie: Wir brauchen eine Pflege, die Menschen nicht nur versorgt, sondern befähigt, so selbständig wie möglich zu leben. Mit ihrem gemeinnützigen Unternehmen domino-world und einem eigenen Betreuungskonzept gehen sie seitdem erfolgreich neue Wege. Aktuell beschäftigen sie über 850 Mitarbeitende, die täglich mehr als 2.500 alte Menschen in Berlin und Brandenburg betreuen.
Verkümmern von Muskel und Geisteskraft
Negative Sprachbilder und Formulierungen rund um das Altsein und alte Menschen gibt es wie Sand am Meer. Eine kleine Auswahl: ›Da sieht man schnell alt bei aus.› ›Du alter Sack.› ›Ihr Vorschlag wirkt recht altbacken.› ›Der geht ja schon wie ein Rentner.› ›Sie hat ihre besten Tage hinter sich.› ›Dort hinten sitzt die Stützstrumpffraktion.› ›Ich will noch nicht zum alten Eisen gehören.› ›Alt und verkalkt...›
Alt sein ist als negativ behaftet – bestimmte Dinge nicht mehr tun zu können. Im Alter fällt manches schwer oder geht gar nicht mehr. Das heutige System basiert auf Hilfestellung, die den Alten die Arbeit abnimmt: Sie müssen sich wenig bewegen, man nimmt ihnen alle Arbeit ab. Doch letztendlich macht genau das noch hilfloser. «Therapie und Reha könnten hier helfen», sagen die Autor:innen. Eigentlich benötigt ein alter Mensch tägliche Fitness und Trainings, sich selbst zu versorgen, denn zwischen dem 30. und dem 80. Lebensjahr verlieren wir etwa die Hälfte unserer Muskelmasse – das gilt auch für das Gehirn. Benutzen wir unsere Muskeln nicht mehr, begeben uns in die Schonhaltung, und trainieren wir das Gehirn weniger, verkümmern Muskel und Geisteskraft, es atrophieren die Muskeln, die Sarkopenie tritt ein und die Minderung unseres Denkvermögens.
Bewegung und Physiotherapie statt herumzuhängen
Wie dramatisch der Muskelabbau ausfallen kann, hat eine Studie der Universität Kopenhagen ermittelt. Bei 32 gesunden Männern unterschiedlichen Alters wurde die Kniescheibe eines Beins zwei Wochen lang lahmgelegt. Die Probanden mussten auf Krücken laufen. Die Jüngeren verloren durchschnittlich 485 Gramm Muskelmasse, die Älteren „nur» 250 Gramm. Der Unterschied erklärt sich dadurch, dass die jüngeren Teilnehmer insgesamt mehr Muskelmasse hatten. Bei den älteren Probanden war diese, Stichwort Sarkopenie, ein gutes Stück niedriger. Die Probanden büßten durchschnittlich ein Drittel ihrer Muskelkraft ein. Selbst ein anschließendes sechswöchiges Aufbautraining reichte nicht aus, um die verlorene Muskelkraft wieder herzustellen (Hollersen, 2015).
Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow gehen mit ihrem Coachingkonzept den Ansatz, die Senioren so lange wie möglich zu Hause zu lassen, sie zu beraten, sportliche Übungen durchzuführen und Hilfestellung im täglichen Ablauf zu geben, um selbst zurechtzukommen. Sie sagen, jeder Arzt im Krankenhaus jagt die Patienten nach der OP gleich aus dem Bett, und verschreibt Reha und Physiotherapie. Warum steckt man die Alten ins Bett, setzt sie auf den Sessel? Die heutige Altenpflege beruht auf dem Konzept der Fremdübernahme, man nimmt den Alten alles ab, sie verkümmern, und die Lebensspanne wird verkürzt. Die Autoren zeigen anhand diverser Studien, weshalb ein Ausdauertraining und Bewegung wichtig ist, um den Volkskrankheiten chronische Rückenschmerzen, Arthrose, Osteoporose und Diabetes Typ 2, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen entgegenzutreten. Sogar das Risiko von Brust- und Darmkrebs sinkt durch Bewegung.
«Liebe deinen Patienten!»
Wer regelmäßig körperlich aktiv ist, kann seinen Bluthochdruck senken, das belegen viele Studien. Ein dreimaliges wöchentliches Ausdauertraining von je 30 bis 40 Minuten soll den Blutdruck um bis zu 15 mmHg senken können. Und schon ein kurzer täglicher Spaziergang von zehn Minuten, zügig durchgeführt, senkt das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall um 20 %. Durch regelmäßige Bewegung weiten sich die Blutgefäße und werden elastischer. Der Herzmuskel wird besser durchblutet und gekräftigt, pro Schlag pumpt das Herz mehr Blut, Puls und Blutdruck sinken. Kurz: Durch Bewegung trainieren wir unser Herz und senken.
Wie sich Bewegung auf unsere Muskeln auswirkt, wird hier anschaulich beschrieben. Entzündungshemmende Botenstoffe werden durch Bewegung der Muskulatur erzeugt, ebenso die Neubildung von Nervenzellen, «Brain-derived neurotro-phic factor», was Depression, Alzheimer und Parkinson entgegenwirkt. Interessant auch hier die beschriebenen Studien zu Alzheimer, Depression und Schlafstörungen. Weiter geht es um Durchhalten und Scheitern an dem, was wir uns vornehmen – der Willenskraft. Ist das Ziel zu hochgesetzt, scheitern wir. Auch sehr lesenswert, das Kapitel über die kristalline Intelligenz. Die Autor:innen beschreiben, was den Pflegebedürftigen am meisten zu schaffen macht: «Es ist die Pflegebedürftigkeit selbst.» In der heutigen Altenpflege arbeiten allesamt nach dem «Krohwinkel-Modell» – es den Alten bequem zu machen, ihnen alles abzunehmen. Das neue Konzept basiert auf «Coaching statt Pflege». Der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen steht im Vordergrund. Es geht immer etwas. Emotionale Zuwendung und Wertschätzung steht als grundsätzliche Einstellung den Klienten gegenüber! Etwas, das nach den heutigen Modellen und Personalmangel meist nur ansatzweise möglich ist. «Liebe deinen Patienten!» Ein 7-Punkte-Programm, bei dem es darum geht, den Klienten zu stützen in seiner Selbstbestimmung und darin, möglichst viel selbst zu erledigen, den Klienten psychisch zur Seite zu stehen – ob zu Hause oder im Pflegeheim. Motivation und Training stehen im Vordergrund, Physiotherapie und Sport. Das alles klingt logisch und ist durch jahrelange Arbeit nach diesem Konzept belegbar. In der Krankenpflege hat man schon lange umgedacht: Raus aus den Betten, Physiotherapie. Warum nicht auch in der Altenpflege; das wäre schlüssig. Ein interessantes Sachbuch zum Thema Altern und Soziologie, das neue Ansätze der Altenpflege und Gerontologie aufzeigt.
Wir haben gerade unseren USP definiert. Ein Modell, das auf Coaching statt Pflege setzt. Die eine Hälfte dieses Modells kennen Sie bereits: die therapeutische Kommunikation. Der Coach baut eine sehr enge persönliche und emotionale Beziehung zum Patienten auf. Regelmäßige Begegnungen und Gespräche sorgen für eine Atmosphäre, die Hoffnung vermittelt und den Glauben an sich selbst stärkt. Das Credo: Es ist nie zu spät, an der eigenen Gesundheit, Fitness und Selbständigkeit zu arbeiten.
Dr. Petra Thees ist 1963 in Bergen/Rügen geboren und hat 1988 promoviert. 1992 fängt sie bei domino-world an. Seit 2020 führt sie die Geschäfte als Vorstand. Lutz Karnauchow, Jahrgang 1953, gründet domino-world 1982 nach dem Psychologiestudium an der FU Berlin. Parallel führt er fünf Jahre lang eine eigene Praxis für systemische Familientherapie und Gesprächspsychotherapie. 2020 übergibt er sein Vorstandsamt bei domino-world an Dr. Petra Thees und wird Vorstand der domino-coaching Stiftung. Thees und Karnauchow sind miteinander verheiratet und leben in der Nähe von Berlin.
Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen
Sachbuch, Altenpflege, Gerontologie, Soziologie
Hardcover, 242 Seiten
W. Kohlhammer Verlag, 2025
Sachbücher

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