Rezension
von Sabine Ibing
Afrika und die Entstehung der modernen Welt
von Howard W. French
In diesem Sachbuch erkundet Howard W. French die zentrale, aber absichtlich vernachlässigte Rolle Afrikas und der Afrikaner bei der Entstehung von Wirtschaftssystemen und politischem Denken unserer modernen Welt. Der Autor zeigt, wie die tragische Beziehung zwischen Afrika und Europa, die im 15. Jahrhundert begann, und letztendlich unsere Moderne hervorbrachte. Durch den afrikanischen Kontinent und seinen Ressourcen, seinem Gold und seiner menschlichen Arbeitskraft konnten Europa und Amerika (das ja durch ausgewanderte Europäer beherrscht wurde) wirtschaftlich aufsteigen. Ein ausgebeutetes Land in Rohstoffen, in Arbeitskräften, Sklavenhandel – ohne die Sklaven hätten die weiten Plantagen in der neuen Welt gar nicht in der Form existieren können.
Sobald die Europäer die Inseln voll und ganz erobert hatten, wurde die kanarische Bevölkerung und Kultur mit seltener Gründlichkeit ausgelöscht, ein entsetzliches Ereignis an das noch immer wenig erinnert – am allerwenigsten, wie ich feststellen musste, das gut besuchte Kolumbus-Museum.
Ein wichtiger Aspekt ist das Auslöschen von Kulturen. Am kanarischen Beispiel wird dies besonders deutlich. Hier lebten früher die Guanchen – und heute weiß man ziemlich wenig über diese Kultur, weil man sie mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht hat. Es gibt eine Menge anderer Beispiele in Afrika. Neben der Christianisierung und dem Raub von kulturellen Werten, der Ausmerzung von Kulturen, entwickelten die Kolonialmächte großen wirtschaftlichen Aufschwung durch Afrika, erzielten hohe Gewinne durch den Handel mit Gold, Zucker, Tabak, Kaffee, Baumwolle usw. Zum einen raubten die Kolonialmächte den afrikanischen Ländern ihre Ressourcen, setzten Einheimische als Sklaven oder billige Arbeitsplätze ein, verschifften Schwarze als Sklaven. So besiedelten die Europäer auch die Inseln in der Karibik, um große Plantagen zu bebauen, auf denen sie Sklaven arbeiten ließen, ebenfalls in den Südstaaten der USA. Der Sklavenhandel war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Erst durch diesen Reichtum konnte sich die europäische und die US-Industriegesellschaft entwickeln. Wenn man meint, Sklaven seinen nur nach Amerika «exportiert» worden – auch Europa mischte mit: «Bis Portugal 1761 verbot, Sklaven in sein Territorium zu importieren, waren 400.000 Afrikaner in das Königreich verschleppt worden.» Den Schätzungen nach wurden etwa zwölf Millionen Afrikaner nach Amerika gebracht, weitere 6 Millionen überlebten die Überfahrt nicht (bei etwa 100 Millionen Weltbevölkerung). Die Wertschöpfung aus Sklavenhandel, Plantagenertrag und Handel konnte Europa und den USA den Bau von Fabriken ermöglichen, die industrielle Revolution in Gang bringen. Die Stadt Elmina (portugiesisch São Jorge da Mina), im heutigen Ghana entwickelte sich zur Großstadt und zum Umschlagzentrum des Sklavenhandels. Und hier entwickelte sich eine neue Gesellschaft, bei der verschiedene Kulturen miteinander lebten, sich vermischen – was man als kreolisch bezeichnete.
Als er Louisiana erwarb, war sich Jefferson durchaus der Risiken bewusst, die mit einem System sozialer Beziehungen verbunden waren, das im Wesentlichen auf der intensiven Ausbeutung von als bewegliches Eigentum verstandenen Sklaven basierte. Bekanntlich verfolgte er das Ziel, ‹ein Reich der Freiheit› zu schaffen, wie er es nannte. Damit nannte er die Freiheit der weißen Bauern, die aus dem Osten des Kontinents und darüber hinaus aus Europa gelockt werden sollten, um die Gebiete zu bevölkern; versprochen wurde ihnen ein Wohlstand, der auf dem Schweiß der Schwarzen beruhte.
Im August 1791 kam es in der französischen Karibikkolonie Saint-Domingue zu einem erfolgreichen Sklavenaufstand mit nachfolgender Revolution. Fast 90 Prozent der in der Kolonie lebenden Menschen waren Sklaven; rechtlose Menschen, die im Besitz eines Herren waren! Unter dem kreolischen Schlachtruf «Tou moun se moun» (Alle Menschen sind Menschen) erhoben sie sich gegen die Franzosen. Die Kolonie befreite sich und nannte sich fortan Haiti. Für den europäischen Baumwollmarkt war die Insel nun verloren. Napoleon, beeindruckt, verkaufte daraufhin Louisiana an die USA für 15 Millionen Dollar – dass aber dadurch zu einem Land der Plantagen wurde, in das viele Sklaven zur Arbeit aus Afrika geholt wurden. Nichts anderes hatte Thomas Jefferson im Blick, als er Louisiana kaufte: Für Baumwollanbau eignete sich dieses Land besonders gut. French vergisst nicht, zu erwähnen, dass auch afrikanische Herrscher ihre Teilschuld am Sklavenhandel trugen, dass afrikanische Menschenjäger und Menschenhändler, die verfeindete Stämme jagten, für ihre Gefangenen gut entlohnt wurden und ihre Stämme gleichzeitig in Ruhe gelassen wurden.
Ich fragte sie, ob wir nicht von diesen weißen Männern mit fürchterlichem Aussehen, roten Gesichtern und losen Haaren aufgefressen würden. (Biografie Avouka French)
Wie sieht der europäische Blick auf die Geschichte Afrikas aus? Ein Kontinent, der in seiner Weite von abenteuerlustigen Entdeckern ausgekundschaftet wurde, von Mönchen sozialisiert und zum Christentum «überzeugt», von Geschäftsleuten entdeckt und das Potential ausgeschöpft – die Europäer haben die Wilden zu zivilisierten Menschen geformt. Und wie sieht der afrikanische Blick aus? Europäer haben den Kontinent überfallen, die Böden ausgebeutet, Kulturen zerstört, Menschen in die Sklaverei gegeben, die Einwohner ausgebeutet und beraubt. Ein Perspektivwechsel: Historisches, Reiseberichte, Zitate – in der Hauptsache geht es um Sklavenhandel und um Bodenschätze (mir zu wenig) – was mir hier fehlt, ist die Zerteilung Afrikas in Länder mit dem Lineal, die die Europäer vorgenommen haben, ebenso die vielen Kriege die Amerikaner und Europäer in Afrika angezettelt und selbst geführt haben. Und letztendlich der Umweltschutz, den die westlichen Firmen nicht einhalten, Kinderarbeit, die Klimaveränderung, die hauptsächlich die westlichen Länder verursacht haben, die Afrika klimatisch besonders schwer treffen. Ein Anfang, mit dem afrikanischen Auge auf die Geschichte zu blicken – und das ist ausführlich und gut gelungen. Am Ende gibt es ein gutes Register und in der Mitte sind einige Schwarz-Weiss-Fotos zu finden, die Personen und wichtige Bauten zeigen. Ein wichtiges Sachbuch, um zu verstehen, was wir Afrika schulden.
Die Jahrzehnte afro-europäischer Kontakte seit 1444 waren grundlegend für die Geburt der modernen Welt, die Fortschritte des Westens und Afrikas spätere Stellung bis in unsere Zeit.
Howard W. French, geboren 1957 in Washington D.C., hat sich als Auslandskorrespondent einen Namen gemacht und das Weltgeschehen für verschiedene Zeitungen kommentiert. 1986 ging er zur New York Times und berichtete von 1990 bis 2008 aus dem Ausland für The Times als Büroleiter für Mittelamerika und die Karibik, für West- und Zentralafrika, für Japan und die beiden koreanischen Staaten sowie für China mit Sitz in Shanghai. Seit 2008 ist er Professor of Journalism an der Columbia University.
Afrika und die Entstehung der modernen Welt
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Karin Schuler, Andreas Thomsen, Thomas Stauder
Sachbuch, Afrika, Sklaverei, Geschichte Afrikas, Sklavenhandel
Hardcover mit Schutzumschlag, 512 Seiten
Klett-Cotta Verlag, 2023
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Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli
Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen. Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung!
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