Rezension
von Sabine Ibing
Das Geschenk des Meeres
von Julia R. Kelly
Joseph weiß, der Sturm kommt. Er sieht den gelben Hof um den Mond und das eisige Glitzern des Winterhimmels, als er vom Strand hinaufgeht und ein paarmal innehält, um seinen schmerzenden Knien eine Pause zu gönnen.
Schottland, Winter 1900. Am Strand von Skerry wird ein lebloser Junge angeschwemmt. Kurioserweise ähnelt das Kind dem Sohn der Lehrerin Dorothy. Ihr Sohn war genauso alt, als er eines Nachts ans Meer ging und nie mehr gesehen wurde. Ausgerechnet Dorothy erklärt sich bereit, das rätselhafte Kind aufzunehmen, bis seine Herkunft geklärt ist.
William kommt zu ihr, umarmt sie und legt den Kopf auf ihre Schulter, voll Staunen, dass ihre unbeholfene Vereinigung offenbar ausgereicht hat. ‹Wie wunderbar›, sagt er, und in diesen Worten liegt so vieles - Entschuldigung und Verzeihen, Bedauern und Erleichterung, besänftigte Furcht. Und dahinter eine unsichere, aber stetig wachsende Freude. Er küsst ihr Haar. ‹Wie wunderbar›, sagt er erneut.
Erinnerungen werden wach. Weshalb war der sechsjährige Moses an diesem stürmischen Tag am Strand? Worüber haben Dorothy und Joseph damals so erbittert gestritten? Und warum wurden sie nie ein Paar, obwohl sie sich für jedermann offensichtlich liebten? Es geht zurück zu der Zeit, als Dorothy ins Dorf kam; die neue Lehrerin, die es schwer hatte, von den einfachen Menschen akzeptiert zu werden. Joseph hat nur Augen für Dorothy – was bei anderen Frauen Neid aufkommen lässt. Doch sie heiratet William – und sie wird nie im Dorf ankommen. Ein Drama spitzt sich zu. Einerseits zeigt das Buch die Schwierigkeit, als Fremder in eine verwurzelte Gemeinschaft aufgenommen zu werden; andererseits geht es um falsche Entscheidungen, um Verlust, Schuldgefühle. Julia R. Kelly arbeitet auf zwei Zeitebenen: Das Jetzt, die Auseinandersetzung mit dem Findelkind, das nicht spricht, und der Vergangenheit der Lehrerin. Eine Geschichte, die in einer starren Dorfgesellschaft spielt, voller Missgunst und Intrigen, Männer, die ihre Frauen schlagen und betrügen.
Manche Dinge kann man wiedergutmachen, und andere muss man einfach in der Vergangenheit lassen.
Gefühlvoll, aber mit klarer Sprache, setzt die Autorin die Geschichte um, verdichtet an manchen Stellen ein wenig zu viel, jedoch nicht im Gesamtkonzept. Atmosphärisch dicht setzt sie die schroffe Landschaft um, das Wetter, das harte Leben am Meer. Dörflicher Klatsch und Tratsch, Ausgrenzungen, Intrigen, Schuld, Geheimnisse, Dramen – ein typischer Stoff nach Shakespeare, aus dem sich immer wieder schöne Geschichten spinnen lassen. Eine glaubhafte Story, interessante, authentische Charaktere, bei denen niemand gut ist, aber auch nicht abgrundtief schlecht. Eine schlüssige Dorfgeschichte mit schwerem Meeressound. Empfehlung!
Julia R. Kelly wuchs in einem Haus ohne Fernseher auf und las alles, was ihr in die Hände fiel. Als Englischlehrerin versucht sie, ihre Liebe zu Geschichten an die nächste Generation von Lesern und Schriftstellern weiterzugeben. Seit sie im Rollstuhl sitzt, weiß Julia die Reisen, auf die uns das geschriebene Wort mitnehmen kann, noch mehr zu schätzen. Julia Kelly stand auf der Longlist für den Mslexia Novel Prize, den Exeter Novel Prize, PenguinWriteNow und den Bath Novel Award. Im Jahr 2021 gewann sie den Blue Pencil First Novel Award. Sie lebt mit ihrem Partner in Herefordshire, wo sie gemeinsam fünf wundervolle Kinder großgezogen haben. The Fishersman’s Gift ist ihr Debütroman.

Das Geschenk des Meeres
Originaltitel: The Fisherman’s Gift
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Feldmann
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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