Rezension
von Sabine Ibing
Wie unsichtbare Funken
von Elle McNicoll
Der Anfang:
‹Deine Handschrift ist absolut erbärmlich.›Ich höre die Worte, doch sie scheinen von weither zu kommen. Als würde jemand hinter einer Mauer stehen und herüberrufen. Ich starre auf das Blatt Papier vor mir. Ich kann alles lesen, jedes einzelne Wort, auch wenn Tränen meinen Blick verschleiern. Ich spüre, dass mich alle im Klassenzimmer beobachten. Meine beste Freundin. Ihre neue Freundin. Das neue Mädchen. Ein paar von den Jungs lachen.
Addie weiß genau, wer sie ist. Sie weiß, dass ihr Lieblingsbuch das Synonymlexikon ist, dass Haie cooler sind, als alle denken, und sie weiß, dass sie die Welt oft intensiver als andere Menschen wahrnimmt. Ob Licht, Geräusche oder Gefühle, Addie wird schnell alles zu viel. Dann fühlt es sich an, als würden unsichtbare Funken um ihren Körper kreisen. Sie ist Autistin – jeder Autist ist ein wenig anders. Addies Wahrnehmung ist heftig: Zu viel Licht, zu viel Lärm, alles ist laut, viel zu bunt, zu unordentlich, alles riecht zu streng, Berührungen sind unangenehm – ihre Sinnesorgane fluten. Sie kann sehen wie ein Adler, hören wie eine Katze, riechen wie ein Hund – und das alles auf einmal. Und darum steht ihr Gehirn manchmal in Flammen. Was sie nicht kann, ist das Deuten von Gesichtsausdrücken, Witze verstehen, Ironie – denn Emotionen sind ihr fremd. Natürlich kann sie selbst glücklich sein, traurig oder wütend; wenn man ihr Verhalten, ihre Eigenheit, nicht verstehen will, sie ignoriert oder mobbt.
Sie sagen schlimme Dinge zu ihr
Selbststimulierendes Verhalten, Stimmig, ist etwas, was ich mache, wenn ich mich überreizt fühle. Meine Hände funkeln und flattern, meine Arme und Beine werden unruhig. Manchmal habe ich das Verlangen, mir auf den Hinterkopf zu klopfen. Es gibt gutes Stimming, und es gibt schlechtes Stimming, aber oft muss ich es verbergen. Masking bedeutet, als neurotypischer Mensch durchzugehen, als jemand, der nicht wie wir ist.
Als Addie in der Schule von der Hexenverfolgung im Mittelalter in ihrem Heimatort Juniper erfährt, kann sie die Ungerechtigkeit kaum glauben. Vor Hunderten von Jahren wurden Frauen fälschlicherweise als Hexen verurteilt, und das nur, weil sie anders waren als der Rest, denen sie merkwürdig erschienen. Genau wie Addie. Damals hätte man sie als Hexe gebrandmarkt! Sie fordert, den Frauen ein Denkmal zu errichten, als Entschuldigung für das, was man ihnen angetan hat. Denn Addie leidet in der Schule, weil ihre Mitschüler:innen und eine Lehrerin sie mit Ablehnung und Ausgrenzung strafen, ihr schlimme Dinge sagen. Ihre ehemals beste Freundin hat sich mit dem Mädchen zusammengetan, das ihr am meisten zusetzt.
Ein berührendendes Kinderbuch
‹Nett zu sein ist hier wichtiger, als gut zu sein. Und ein Denkmal, das sie an all das Böse erinnert, was vor Hunderten von Jahren in diesem Dorf passiert ist, ist einfach nicht nett.›Nett habe ich noch nie richtig verstanden. Dafür gibt es wohl Masking. Um nett zu erscheinen.Ich schlucke. ‹Ich gebe nicht auf.›‹Solltest du aber. Es wird nicht passieren. Wenn du es weiter versuchst, wirst du dir nur selbst schaden.›
Addie besucht die Stadtversammlung und bringt ihr Anliegen vor. Doch man ist nicht begeistert von ihrem Vorschlag. Sie ist fest entschlossen, zu kämpfen, richtet eine Sammelaktion für das Denkmal ein. Sehr eindrücklich beschreibt Elle McNicoll aus der Sicht von Addie ihre Position als Außenseiterin; anders zu sein, als der Rest; das Mobbing, was damit verbunden ist. Sie charakterisiert empathisch Autismus in allen Facetten, die Probleme von Addie, mit der Welt klarzukommen, sich anpassen zu müssen – das Masking. Der Kinderroman ist ein Appell an die Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins – alle zu nehmen, wie sie sind, ohne sie auszugrenzen, ohne ihnen weh zu tun. Ein berührendendes Kinderbuch zum Thema Inklusion! Der Atrium Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 10 Jahren – das passt für mich. Empfehlung!
Elle McNicoll kommt ursprünglich aus Schottland und lebt inzwischen in London. Sie arbeitete als Lektorin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihr Debüt ›Wie unsichtbare Funken‹, der den Waterstones Book Prize of the Year gewann, wurde auf Anhieb zum Bestseller.
Wie unsichtbare Funken
Originaltitel: A Kind of Spark
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara König
Kinderbuch, Kinderroman, Autismus, Inklusion
Hardcover, 223 Seiten
Atrium Verlag, 2023
Altersempfehlung: ab 10 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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