Rezension
von Sabine Ibing
WEIL
von Martin Muser
‹Ich hätte es halt einfach nicht gedacht, dass einer wie du Abi macht.›‹Einer wie ich?›, hakte Philipp nach. Jetzt schauten alle gespannt auf den Anhalter. Knut fixierte ihn im Rückspiegel.
‹Na ja, du weißt schon… weil…› Der Anhalter hob die Hände und fasste sich ins Gesicht.
‹Weil ich Schwarz bin›, sagte Philipp. Der Anhalter grinste achselzuckend.
Der Jugendthriller in einem Satz: Gewaltfreudige Unterschichtsjugendliche reißen die heile Welt junger privilegierter Pazifisten ein. Kurz vor dem Abi wollen sie zusammen lernen, fünf privilegierte Jugendliche aus Frankfurt, eine Clique, zwei Pärchen und einer, der gerade solo ist, weil tags davor seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat, nicht mitfährt. Mit dem VW-Bus geht es los in Wochenendhaus an einen See; das Haus gehört den Eltern eines der Mädchen. Unterwegs nehmen sie einen Tramper auf. Ein unangenehmer Typ, der den farbigen Philipp anstinkt und den Mädchen übel auffällt. Sie hatten miteinander geredet, erzählt, in welches Dorf sie fahren, was sie dort machen werden. Sie halten. Ein Stopp an einer Tankstelle. Der Tramper ist auf der Toilette, widerlicher Typ! Kurzerhand lassen sie ihn stehen. Doch da ist seine Tasche! Sie werfen sie aus dem Fenster, ist kaum was drin, auch nichts Wertvolles.
Manuel hat versucht zu vermitteln.
Selin hat versucht sich zu wehren.
Knut hat versucht den Fehler zu korrigieren.
Philipp hat versucht Hilfe zu holen.
Esther hat versucht zu fliehen.
Vergeblich.
Das Klatschen klang wie ein Explosion und der Schlag ließ Selin taumeln. Esther schaute entsetzt. Henk hatte Selin unvermittelt eine Ohrfeige verpasst. Selin, die sich gefangen hatte, stand einfach nur da. Wie in Trance berührte sie die Stelle, wo Henks Hand ihr Gesicht getroffen hatte.
Am nächsten Morgen steht der Anhalter vor dem Haus am See, seine zwei älteren Brüder im Schlepptau, und sie dringen ins Haus ein. Ein perfides Spiel um Macht, Gewalt beginnt, Angst beherrscht die Abiturienten … Das Buch hat nur 128 Seiten und wir sind schon fast in der Mitte angekommen, als der Stress beginnt. Höfliche Abiturienten mit guten Umgangsformen, die Gewalt verabscheuen und eine ethische Grundhaltung haben. Dagegen gewaltbereite Assis, die beleidigen, terrorisieren und gewalttätig werden, weil es Spaß macht, sie so ihre Macht, ihre Dominanz ausleben können. Es geht um die Tasche. Wer hat sie aus dem Fenster geschmissen? Die hohlen Jungs machen klar: Derjenige wird hart bestraft werden! Wie reagiert diese Gruppe? Werden sie sich gegenseitig verraten oder zusammenhalten? Wie gehen sie mit Gewalt um? Starker Druck lastet auf der Gruppe. Wird einer von ihnen zusammenbrechen oder Verrat üben? Die Brüder argumentieren mit der Gewalt am Tramper – stehengelassen und Tasche geklaut – eine Straftat – so edel scheint die Gesinnung der privilegierten Gesellschaft gar nicht zu sein.
‹Für Kant ist das Böse eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit, entgegen den objektiven Gesetzen der Sittlichkeit zu handeln.›
Er ließ den Block sinken. Hielt bedeutungsvoll inne und guckte Selin an. ‹Eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit, entgegen den objektiven Gesetzen der Sittlichkeit zu handeln — das musst du jetzt erklären.›
‹Was gibts da noch zu erklären, entgegnete Selin hart. ‹Neigung zum Bösen — du bist der beste Beweis dafür.›
Die Charaktere treten in den Hintergrund, denn darum geht es nicht. Aktion und Reaktion. Moral und Handeln. Was ist Gewalt? Auf Gewalt erfolgt Gegengewalt. Machtdemonstration. Hilflosigkeit derer, die Gewalt verabscheuen, mit ihr nicht umgehen können – der Abgrund, der sich im Menschen auftut, was er bereit ist zu tun. Mich erinnerte der Jugendroman an den Film «Wer Gewalt säht» mit Dustin Hoffman. Die Story ist natürlich völlig anders, aber das Grundprinzip stimmt. Das Drama der Freiheit – der Mensch kann entscheiden, was er tut – zum Positiven wie auch zum Negativen. Die Dialoge zwischen den Parteien bestimmen die Handlung. Kant oder Brechts «Der gute Mensch von Sezuan» werden zitiert. Es gibt einen wunderbaren Schlagabtausch über Moral und Ethik. Die aufkeimende Gewalt zwingt die Jugendlichen zu handeln. Moral in der Gewalteskalation. Wie werden sie sich der Situation stellen – und werden Aktionen der einzelnen von den anderen richtig gedeutet? Ein sehr feiner Jugendthriller, spannend, mit sehr viel Tiefgang. Der Carlsen Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 14 Jahren – passt.
Martin Muser ist freier Autor, Dramaturg und Dozent und lebt in Berlin. Neben Drehbüchern für das deutsche Fernsehen schreibt er besonders gerne Kinderbücher. Bei Carlsen erschien 2018 sein hochgelobtes Debüt »Kannawoniwasein - Manchmal muss man einfach verduften«, für das er mehrere Auszeichnungen bekam.
Martin Muser
WEIL
Jugendroman, Thriller, Gewalteskalation, Jugendthriller, Jugendbuch, Kinder-und Jugendliteratur
Hardcover, 128 Seiten
Carlsen Verlag, 2023
Altersempfehlung: ab 14 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
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