Rezension
von Sabine Ibing
Was auf das Ende folgt
von Chris Whitaker
‹Das Babyfon ist so ein neues Modell mit Monitor. Unten in Harrys Zimmer ist eine kleine Kamera installiert, die Basisstation steht neben meinem Bett. Ich war nervös, weil Harry unten in seinem Zimmer schlief, vor allem weil es zwei Stockwerke tiefer liegt, im Tiefparterre. Ziemlich weit bis da runter. Das Haus ist eigentlich nicht geeignet für eine Familie. Aber Michael mochte es trotzdem. ...
Ein Mann im Zimmer meines Sohnes.›
Ihre Stimme begann heftig zu zittern.
‹Der Mann trug eine Clownsmaske.›
Tall Oaks, eine kalifornische Kleinstadt. Jeder kennt jeden und das Böse ist hier fremd. Doch eines Nachts wird der dreijährige Harry Monroe aus dem Haus entführt. Die alleinerziehende Mutter, Jess, ist völlig aufgelöst – sie war aufgewacht, hatte über das Babyfon mit Kamera einen Mann mit Clownsmaske im Kinderzimmer wahrgenommen. Der Junge bleibt spurlos verschwunden, es gibt keine Erpresserforderung. Das FBI und die Journalisten verschwinden bald wieder; es gibt Wichtigeres zu tun. Doch der ortsansässige Polizist Jim ermittelt weiter. In dem Ort ist nichts mehr, wie es war. Jeder in Tall Oaks wird plötzlich zum Verdächtigen, und ungeheuerliche Dinge kommen nun ans Licht, die die Stadt für immer verändern …
Figurenpanoptikum
Jess, Harrys Mutter, befestigt noch über Monate hinweg Plakate mit Harrys Foto. Sie ist nun ganz allein, denn ihr Mann hatte sie kurz vor der Entführung wortlos verlassen. Um ihre ihre Seelenschmerzen zu betäuben, kippt sie Alkohol in sich hinein, lässt sich auf Männer ein, die ihr nichts bedeuten. Jim forscht akribisch, hört sich immer wieder die Vernehmungsbänder an – vielleicht hatte er doch etwas übersehen. Einer aus diesem Ort muss es sein! Und was ist passier, wo ist Harry? Je mehr Jess fällt, um so mehr verliebt sich Jim in Jess, will sie beschützen. Nebenbei wird ein Figurenpanoptikum aufs Papier gezaubert; jeder der Kleinstädter ist skurriler als der nächste. Der Roman ist ein Genremix aus Kriminalroman, Drama und Screwball-Comedy. Da gibt es den mexikanischen Teenager Manny, in Nadelstreifen-Dreiteiler, Budapestern und Fedora, der gern ein Gangster wäre, vorhat, zusammen mit seinem jüdischen Freund Abel mit Schutzgelderpressung den Lebensunterhalt zu verdienen, sobald sie die Highschool abgeschlossen haben. Der übergewichtige, riesengroße 35-jährige Jerry muss seine Mutter pflegen, eine richtige Giftnudel. Er arbeitet in einem PhotoMax-Laden, in seiner Freizeit fotografiert er. Weil er talentiert ist, fordert ihn Lisa auf, an einem Fotowettbewerb teilzunehmen. Jerry ist in Lisa verliebt, doch die ist unerreichbar für ihn und mit seinem Chef verlobt. Mannys Mutter bändelt mit einem Autoverkäufer an, der Manny nicht ganz koscher erscheint. Es gibt den pornoschauenden Robert, den Schwager von Jess, der in einer kaputten Ehe vegetiert, einen schwulen Konditor, eine Menge interessanter Charaktere. Es geht um Schicksalsschläge, Drama, Liebe, Freundschaft, Verrat, den Zusammenhalt, Mobbing, Krankheit, und das Erwachsenwerden – eben der Mikrokosmos einer Kleinstadt. Hier sind alle auf der Suche nach ihrem großen Glück!
Es ist das Debüt von Chris Whitaker, der mit seinem nachfolgenden Roman «Von hier bis zum Anfang» Erfolg beim deutschen Publikum hatte. Das Verschwinden des Jungen und die Ermittlung dienen dazu, das Kleinstadtleben aufzudecken – letztendlich geht es hier um die Einwohner. Immer mehr Heimlichkeiten dieser absonderlichen Typen werden entschleiert, das auf sehr humorvolle Art. Und am Ende wird der Fall gelöst – mit Überraschung. Man kommt nicht drauf; doch eigentlich befindet sich die Lösung des Falls, zumindest das Motiv, bereits auf den ersten Seiten. Gute Unterhaltung.
Was auf das Ende folgt
Originaltitel: Tall Oaks
Aus dem amerikanischen Englischen übersetzt von Wolfgang Müller
Krimi, Kriminalroman, Drama, Screwball-Comedy, amerikanische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten
Piper Verlag, 2022
Von hier bis zum Anfang von Chris Whitaker
Laut der Werbung des Verlags ebenso bewegend wie «Gesang der Flusskrebse», eine amerikanische Geschichte in gleicher Tonalität. Aber mal ehrlich, dieses Buch kann dem genannten Roman nicht das Wasser reichen! Ab der ersten Seite wurde man hineingezogen, mit Atmosphäre, Poesie, Spannung, Charaktere, Sprache; das Gesamtpaket. Aber genau das alles fehlte mir an diesem Roman. Er ist nicht schlecht. Aber die Story plätscherte dahin, die Charaktere so lala, Atmosphäre und Sprache im Mittelmaß. Eins haben beide Romane gemeinsam: Es geht um vernachlässigte Kinder, die sich und ihre Geschwister selbst erziehen müssen, um überforderte Eltern. Eine dysfunktionale Familie, die durch ein Unglück aus dem Lot gebracht wurde.
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Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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