Direkt zum Hauptbereich

Verrufene Tiere von Stephan Wunsch - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Verrufene Tiere 


von Stephan Wunsch

Ein Bestiarium menschlicher Ängste


Um die 100000 Menschen sterben jährlich an Schlangenbissen, 25 000 an Hundebissen; 1000 nach Krokodilangriffen und 2000 an Bandwürmern. Mit rund zehn Todesopfern pro Jahr liegt der Hai weit hinten … Dennoch gehört der Hai zu den meistgefürchteten Tieren und gilt als einer der führenden Auslöser von Phobien.

Eine Maus, eine Spinne! Manch einer steht schreiend auf dem Stuhl. Warum eigentlich? Gut, Krokodile, Giftschlangen, einem Löwen möchte man wirklich nicht in freier Wildbahn begegnen. Manche Tiere haben einen schlechten Ruf, dabei sind sie weder gefährlich, weniger gefährlich, auch keine Vampire …. Wir mögen sie ganz einfach nicht. Stephan Wunsch geht dem auf die Spur und porträtiert zehn dieser schlecht beleumundeten, ja verrufenen Tiere. Ob nun die Angst vor Schlangen, die Abscheu vor Geiern oder der Ekel vor Spinnen – das menschliche Verhältnis zu vielen Tieren ist von tiefer Ablehnung geprägt. Ihr Ursprung reicht bis in eine mythische Vorzeit, in der sich der Mensch nicht zuletzt durchs Erzählen und Fabulieren von der Tierwelt losgesagt zu haben glaubte. Stephan Wunsch. Denn ein Bestiarium der verrufenen Tiere, ist ein Katalog unserer Ängste, ein Spiegel unserer Unzulänglichkeiten: aasigem Geier, bis falscher Schlange, von hinterlistiger Hyäne bis vampirischer Fledermaus.


Statt zu sterben, verwandeln sich die Teile des Medusenschirms in Polypen, die auf festem Grund siedeln und so den Lebenszyklus von vorn beginnen, ohne jemals gestorben zu sein. Rejuvenation (Wiederverjüngung) nennt man diese ans Wunderbare grenzende Begabung.


Das Buch beginnt mit dem Hai und die ausgelöste Hysterie um einen der ältesten Fische der Welt. Eine tiefsitzende Angst, die insbesondere durch Literatur (Bertold Brecht, Jack London, Richard O’Berry) und Filme ausgelöst ist. Der Autor des Buchs «Der weiße Hai», der verfilmt wurde, hat es später bereut, dazu beigetragen zu haben und setzte sich später zum Schutz der Tiere ein. Denn der Hai wird gejagt, obwohl nur wenige Arten gefährlich sind. Der Autor klärt auf über die Geschichte des Hais, über Fakten, Zahlen, menschliche Ängste und warum wir «Flipper» gern haben, der Hai sich uns schwer nähern kann. Warum haben wir Angst vor Spinnen und Schlangen, obwohl es keine tödlich-giftigen Arten in Europa gibt? Hier kommen Urängste ins Spiel. Es gab eine Untersuchung, bei der man kleinen Kindern, die ja noch nicht indoktriniert waren, Bilder von diversen Tieren zeigte. Bei Spinnen und Schlangen schreckten sie ein wenig zurück. Urängste, genetisch über Jahrtausende in unserem Gehirn verankert. Gut, in anderen Ländern sind Spinnen und Schlangen gefährlich; man schätzt, das 100 000 und mehr Menschen am Schlangenbiss sterben (diese Fälle werden nicht unbedingt gemeldet). Ebenso geht man davon aus, dass ca. 700 000 Menschen am Mückenstich sterben – nicht an durch die Mücke, aber an der Übertragung von Erregern. Doch niemand bekommt eine Panikattacke beim Anblick einer Mücke. Die Schlange in der Bibel, aber auch hoch verehrt in einigen Kulturen, Schlangen im Zauberrech, in der Wissenschaft seit der Antike ein Zeichen der Medizin. 


Hätten nicht Delfine unsere nächsten Verwandten sein können: klug, anmutig, ewig lächelnd? … Aber nein, die Affen mussten es sein: ordinäre, schmutzige, geile Viecher, grimassierend und kreischend, die streiten, wenn sie nicht gerade kopulieren, mit Geschmatze ihren Fraß vertilgen oder Zoobesucher mit Kot bewerfen.


Kulturgeschichte, Biologie, Fakten, Zahlen, Literatur – ein erzählendes Sachbuch, das Spaß macht zu lesen. Lachende Hyänen, unsterbliche Quallen, Geier, Fledermäuse, Wespen, Kraken, Affen, sie alle sind besser als ihr Ruf. Ein süffiges Buch, mit Humor geschrieben, stellt Fakten gegen Vorurteile und geht dem auf den Grund, was den Menschen zur Abscheu treibt. Der Mensch ist von Urängsten getrieben, sitzt gern Fakenews auf und er ist ein psychologisch fragiles Geschöpf. Einer feht mir, der Wolf – ein harmloses aber mythenträchtiges Tier, über das so viel Blödsinn erzählt wird. Ein kleiner Band der Reihe Naturkunden, die ich immer wieder gerne lese. Empfehlung!



Stephan Wunsch, 1968 geboren, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Er arbeitet seit 2002 als Puppenspieler, Figurenbildner und Regisseur in Aachen. Projekte über Vogelwesen, das Cambrium und die Tiefsee bilden einen Schwerpunkt seiner Arbeit.

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.




Stephan Wunsch
Verrufene Tiere
Ein Bestiarium menschlicher Ängste
Herausgeberin: Judith Schalansky
Reihe Naturkunden Bd. 097
Sachbuch, erzählendes Sachbuch, Tiere, Natur
Hardcover, Leinen, 238 Seiten
Matthes & Seitz, 2023


Zum Thema:

Wölfe, wahre Geschichten von Michal Figura, Aleksandra und Daniel Mizielinski

Der Wolf ein Mythos aus Märchen und anderer Literatur. Wölfe haben sich längst wieder in Europas Wäldern etabliert, halten das natürliche Gleichgewicht der Natur. Er ist menschenscheu, schlägt um den Menschen einen großen Bogen. Schon gar nicht greift er ihn an. Dieser Sachcomic, ein Sachbilderbuch schildert acht reale Begegnungen mit einzelnen Wölfen und Wolfsrudeln aus den vergangenen Jahren.  Ein Comic für kleine Naturbegeisterte, aber nicht nur für Kinder. Wölfe, Verhaltensforschung, spannende Geschichten, Comic ab 8 Jahren – Allage. Abteilung Lieblingsbuch!

Weiter zur Rezension:   Wölfe, wahre Geschichten von Michal Figura, Aleksandra und Daniel Mizielinski



Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder