Rezension
von Sabine Ibing
Tippo und Fleck
von Barbora Klárova, Tomás Končinský, Daniel Špaček
Man braucht nur einen Augenblick nicht hinzusehen, und schon sieht das, was gerade noch glänzend neu war, schäbig und abgenutzt aus. Wer ist schuld daran? Nun, mitten unter uns gibt es winzige Kobolde, die es sich zu Aufgabe gemacht haben, Dinge mit einem Makel zu versehen oder schlicht altern zu lassen. Beileibe keine einfache Arbeit!
Das Buch ist abgegriffen, hat Knicke, eine Seite löst sich aus der Bindung! Das Lieblingsshirt hat ein Loch. Kann nicht sein! Doch! Die Jeans wird brüchig, die Jacke ist ausgeblichen, hat einen Fettfleck, der nicht mehr herausgeht, bei den Lieblingsschuhen gehen die Nähte auf, der Strohhut löst sich in Einzelteile auf, die beste Tasse hat einen Sprung, dem Teddy wackelt das Auge, die Fotos vergilbt, das Videoband zerrissen, das Parkett ist zerkratzt, das Sofa zeigt Flecken, da kann einem der Atem stocken! Und schon ein Loch in den Lieblingssocken! Jedes Ding auf dieser Welt geht seinem Ende entgegen. Wer ist daran schuld? Kleinen Lebewesen, die überall um uns herum leben, steuern diese Prozesse, in den verborgenen Orten dieser Welt. Das ist eine Menge Arbeit und Verantwortung! Zwei davon heißen Tippo und Fleck.
Ich verspreche,
dass ich fleißig und gewissenhaft
bei Tag und bei Nacht
daran arbeiten werde,
dass die Dinge altern und in ihnen
Unordnung herrscht!
Nichts darf jemals
geordnet an seinem Platz bleiben,
alles muss unaufhörlich
ins unendliche Durcheinander streben –
die Entropie.
Nur so bleiben
unser Weltraum und die Welt
für immer superduper.
Nur so wird aus mir
ein ichtiger Entropf, ein Entropiewicht.
Tippo besucht die dritte Klasse der GSAD, der «Grundschule für das Altern der Dinge». Seine Familie übt über Generationen den Beruf der Buchzersetzer aus. Der Papa ist Abteilungsleiter der «Esseisten», die Essensreste, in Bücher schmiert, Löcher hineinbohrt und das Papier vergilbt. Die Mama gibt den Büchern den typischen Duft von altem Papier mit einem Hauch von Moder. Typo und Fleck sind «Kobold-Entropiker», deren Aufgabe es ist, alles im Chaos unter der Herrschaft des Zorns der Zeit alt werden zu lassen. Typos Freund Fleck ist ein total verschmierter, mit Kakao bekleckster Kobold, und somit der Lieblingsschüler der Lehrerin für Kleckskonstruktion. In der Schule erlernen sie ihren Beruf: Dinge bis zum völligen Verfall abzunutzen. Tippo natürlich gehört zu den jungen Wilden der Büchergarde des 21. Jahrhunderts, die im IT-Betrieb ihr Unwesen treiben, Dluckfehler einfügen, Programmcodes verändern und die Hardware attackieren, z. B. Tastaturen verklemmen. Er ist besonders gut darin, grammatikalische Fehler in Bücher zu setzen. Bei einem Ausflug in die Welt der Menschen erleben die beiden Freunde, dass den Menschen das Altern von Dingen nicht so gar nicht gefällt, dass es sie traurig macht. Deshalb beschließen sie, den Zahn der Zeit aufzuhalten ... Aber ist das sinnvoll? Ein gewisser Mistkäfer spielt auch eine Rolle.
Mit dem Durchtrennen der Binde startest du feierlich das Altern dieses Buches!
Die Banderole lösen und den Alterungsprozess starten! Ein weißer Einband – schnell prüfen, ob die Finger auch sauber sind! Es ist eine fesselnde Geschichte, eine originelle Idee und herrlicher Humor gleichermaßen für Kinder und Eltern – zum Vorlesen oder selbst lesen. Unter der Oberfläche der witzigen Handlung berührt das Buch nämlich wichtige existenzielle Fragen, den Zerfall. Die Phänomene des Alterns streifen dabei allerlei philosophische Gedanken. Ob Bibliothek, Süßwarenladen oder eine Müllhalde, der Alterungsprozess lässt nichts aus. Wortspiele und Worterfindungen machen das Buch zum Erlebnis. Es ist ein umfangreiches Kinderbuch von 128 Seiten – eins das fordert, das aber auch den Leser zum schallenden Lachen bringt. Der Carl Rauch Verlag gibt eine Altersempfehlung von ab 6 Jahren – ich tendiere auf ab 8 Jahre zu erhöhen, denn so lustig wie das Buch ist – stehen in der Tiefe grundlegende Überlegungen, die man gut diskutieren kann, wobei ein Sechsjähriger von Inhalt und Sprache des Buchs sicher überfordert ist. Hier strahlt eine Fülle an Kreativität, Witz und Wortschöpfung, und mit den philosophischen Ansätzen ist das Buch sicher auch für Grundschullehrer interessant. Es sind fünfzehn Kapitel, das Buch ist mit einem Lesebändchen versehen – eine Pause ist sicher angemessen. Denn man kann sich auch Zeit für die hervorragenden Zeichnungen von Daniel Špaček lassen, der sein Geschick für Wimmelbilder an mancher Stelle freien Lauf lassen kann. Mich wundert es, dass solch brillantes Kinderbuch bisher kaum Aufmerksamkeit erregen konnte. Immerhin steht es nun auf der Liste der Nominierten zum Deutschen Kinder- und Jugendbuchpreis, Sparte «Neue Talente» in der Übersetzung. Frei erfundene Wortschöpfungen findet man in diesem Buch an allen Ecken. Lena Dorns Kunst der Übersetzung fängt dort an, wo das Wörterbuch endet – eben ein neues Wort in einer anderen Sprache zu erfinden, das dieser anderen Worterfindung gleicht. Der Karl Rauch Verlag hat eine Seite, auf der er seine Autoren vorstellt – warum sind diese Autoren dort nicht zu finden?
Fleck und ich sind schon ziemliche Chaosmagneten. Und Fleck und ich waren schon immer beste Freunde und werden es für immer bleiben. Na ja, mit Ausnahme der unglücklichen Begebenheit mit dem Zahn der Zeit, aber bis dahin muss ich mich erst noch durchbeißen.
Barbora Klárová, geboren 1983 in Roudnice nad Labem/Tschechien, studierte Musik und Englisch an der Prager Karls-Universität. Sie ist Jazzsängerin und gehört auch als Sprecherin und Moderatorin zu den bekannten Stimmen in Tschechien. Als Autorin schreibt sie Drehbücher für Kinder- und Jugendfilme.
Tomáš Končinský, geboren in Brünn, hat einen Abschluss in Drehbuch und Dramaturgie an der Akademie der darstellenden Künste in Prag (FAMU). Er arbeitet als Drehbuchautor und Drehbucheditor für das Fernsehen. 2015 wurde er für das Drehbuch des Films «Schmitke» für einen Český lev-Preis nominiert. Tomáš verbindet gerne die Welten von Kindern und Erwachsenen. Als einer des Autorenteams des Buches Překlep a Škraloup «Typo and Skim» gewann er 2017 den Magnesia Litera- und den Zlatá stuha-Preis.
Daniel Špaček ist ein international mehrfach ausgezeichneter Illustrator, der seit über 20 Jahren Kinderbücher illustriert. Er zeichnet leidenschaftlich gerne komplexe, wimmelnde Bilder mit vielen kleinen Geschichten und er ist Mitbegründer des Neuron Collective einer Agentur für Wissenschaftsvisualisierung.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Lena Dorn
Gebunden, mit abnehmbarer Banderole, 32 x 24, 128 Seiten, Lesebändchen
Karl Rauch Verlag, 2018
Altersempfehlung ab 6 Jahren – von mir ab 8 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
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