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Surwilo von Olga Lawrentjewa - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Surwilo 


von Olga Lawrentjewa

Eine russische Familiengeschichte


Das Unglück ist immer ganz nah. Ich weiß das. Seit damals.

In Olga Lawrentjewas Graphic Novel begleiten wir ihre Großmutter Walentina Surwilo wie sie beim Pilzesammeln aus ihren Jugendjahren erzählt. Sie beginnt, wie ihrer Mutter 1914 Wikenti Kasimirowitsch Surwila heiratet. Der Vater stammt aus Polen und er erklärt, in seinem Dorf heißen alle Surwilo, nach dem Dorf Surwily – und er ist überzeugter Kommunist, Mitglied der KPdSU. Darum versteht niemand, warum er mit einer Gruppe von polnischen Kollegen auf der Werft in Leningrad (heute St. Petersburg) 1937 verhaftet wird, als Volksfeind beschuldigt. Neben dem Ausschluss vom Unterricht muss Walentina die schmerzliche Erfahrung machen, dass sich die eigene Verwandtschaft plötzlich von Mutter und Töchtern abwendet. Die Mutter wird mit den Kindern in das Dorf Baschkortostan östlich der Wolga verbannt.



Der Vater fiel der stalinistischen Säuberungen zum Opfer, wie Millionen andere Menschen. Die Angst im Land ging um. Angehörige von sogenannten Systemfeinden wurden gemieden, damit man nicht unter Verdacht geriet, etwas mit ihnen zu tun zu haben. Die Schwestern glauben an eine Verwechselung,  schreiben Briefe an den Kreml, an den «Genossen Stalin», wollen wissen, wo der Vater abgeblieben ist. Als die Mädchen alt genug sind, schickt die Mutter sie zurück nach Leningrad; Walentina erhält auf Grund ihrer schulischen Leistungen ein Stipendium, um zu studieren. Aber später will niemand die Absolventin mit den besten Abschlussnoten einstellen, denn beim Ausfüllen des Personalbogens müssen die Eltern eingetragen werden: der Vater, Aufenthalt unbekannt, seit seiner Verhaftung … Die Mädchen haben es schwer. Und dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Man sucht für die schwere Arbeit im Krankenhaus Personal. Nun ist es egal, wer die Eltern sind. Walentina ist Hunger gewöhnt, doch der Krieg verlangt ihr einiges ab. Als Leningrad belagert wird, ist der Hunger kaum auszuhalten und die Blockade wird mehr als 2 Jahre andauern. Über eine Million Menschen werden hier verhungern! 




Die Mutter ist längst verstorben, und Walentinas Schwester starb im Krieg. Ihr Jugendfreund Petja kehrt zurück aus dem Krieg, liebt Walentina noch immer und die beiden heiraten nach Kriegsende. Die Kriegstraumata belasten die junge Frau noch lange. Unerwartet trifft 1958 ein Brief ein. Ihr Vater wird rehabilitiert, alles war ein Missverständnis. Selbst somit auch rehabilitiert, erhält Walentina rückwirkend eine Auszeichnung für die Verteidigung Leningrads. Dass ihr Vater nach 11 Tagen Gefangenschaft hingerichtet wurde, erfährt sie erst 1989. Die Familie recherchiert: Das Dorf Dorf Surwily liegt heute in Belarus.  Eine typisch russische Familiengeschichte. Jede Familie hat Angehörige verloren durch politische Umstände oder im Krieg, oft beides. Angst- und Verlusttrauma, die über Generationen weitergegeben werden. Die Angst ist heute in Russland zurückgekehrt. Eine Familiengeschichte aus dem 20. Jahrhundert über den Lenistischen Terror – Parallelen zur heutigen Welt sind nicht zu übersehen. Eine Graphic Novel, die in Russland gefeiert wurde. 


Die Grafiken sind ausdrucksstark – schwarz-weiß in Feder und Tusche. Sehr beeindruckend gezeichnet ist die Zeit der Blockade. Walentina völlig erschöpft, ohne Schlaf, hungrig zwischen den verwundeten Soldaten, die zu pflegen sind – eine Frau selbst am Rande des Todes. Das Auftauen der Leichen vor dem Transport … Erlebnisse, die prägen. Die Autorin spielt mit klaren Bildern und diffusen Zeichnungen. Deutliche Bilder, genaue Gesichter oder getupft, verwischt bis zur verlaufenen Zeichentusche. Transparente Erinnerungen im Nebel, zu grauenhaft, um klare Bilder zu setzen – Andeutungen über das, was geschieht. Ein Comic, der beeindruckt.

 

Olga Lawrentjewa (geb. 1986) ist Künstlerin und Karikaturistin. In Russland gilt Surwilo bereits als moderner Klassiker und wird inzwischen mit Art Spiegelmans Maus verglichen.



Olga Lawrentjewa
Surwilo
Eine russische Familiengeschichte
Übersetzt aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Graphic Novel, Comic, Russland, Stalinismus, Russische Geschichte
Hardcover, 312 Seiten
Avant Verlag, 2022



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