Rezension
von Sabine Ibing
So enden wir
von Daniel Galera
Der erste Satz: Dieser plötzliche Drang, die Zerstörung der Welt voranzutreiben, hatte mit dem Gestank von Menschenscheiße auf den Gehwegen zu tun, mit den Dämpfen, die von den Müllcontainern aufstiegen, dem Streik der Busfahrer und der allgemeinen Verzweiflung über die Hitzewelle, die Porto Alegre gegen Ende jenes Januars überrollte, aber wenn es ein vorher und nachher gab, einen Bruch zwischen dem Leben, das ich bisher geführt hatte, dann war es die Nachricht, dass Andrai am Abend zuvor bei einem bewaffneten Raubüberfall ums Leben gekommen war.
Der berühmte brasilianische Blogger und Schriftsteller, Andrei Dukelsky, Duke genannt, wird Opfer eines Raubüberfalls, jemand war an seinem Handy interessiert, er wird erschossen, banal ermordet. Die halbe Welt trauert um ihn. So profan endet das Leben eines berühmten Mannes, seine Freunde und Fans sind entsetzt. Früher einmal waren Duke und seine drei Freunde Aurora, Emiliano und Antero unzertrennlich, in Porto Alegre gründeten sie das Online-Magazin »Orangotango«. Es war eine Zeit der Grenzüberschreitung jeglicher Art, da sie immer die Apokalypse vor Augen hatten, jede Minute ihreres Lebens genießen wollten. Jeder ist später seiner Wege gegangen, durch den Tod von Duke kommen sie wieder in Kontakt. Das Buch ist in drei Stränge geteilt. Die drei Freunde berichten über sich, gemeinsame Zeiten und über das, was aus ihnen geworden ist.
Nichts soll von mir bleiben
Duke hat per Testament festgesetzt, dass sämtliche digitalen Spuren von ihm gelöscht werden, nichts Digitales von ihm soll der Nachwelt erhalten bleiben, Blogbeiträge, Manuskripte, Mails. Die einstige Welt des digitalen Aufbruchs, des Teilens, ist für ihn gescheitert. Damals war für die drei Freunde das Internet die Eroberung der Welt: Hinausrufen was passiert, was einen interessiert, sich zu vernetzen, Kontakt zur ganzen Welt zu haben. Heute jedoch gehört die digitale Welt zur Normalität, als Solidaritätsmedium wird sie kaum noch genutzt, Überwachung überall, der eine agiert gegen den anderen, Pöbelei, Egoismus pur.Die Moral von der Geschichte war, dass man hochhalten müsse, was uns zu Menschen machte, und dazu gehörte auch die Angst vor dem Tod und vor der Apokalypse.
Aurora würde gern die Welt verändern, sie will den Welthunger bekämpfen, sie forscht an Zuckerrohrpflanzen. Sie hat bereits ein Stipendium für eine Arbeit erhalten, bei der sie einen Test »zur Erkennung von Sojabohnenschädlingen« entwickelte. Sie ist gut in ihrem Fach, muss sich allerdings gegen einen übergriffigen Professor wehren, zeigt ihn an, der sie nun aus Rache bei der Vorstellung ihres Promotionsprojekts durchfallen lässt. Immer wieder Übergriffe und Degradierung durch Männer, Seilschaften, durch die man als Frau kaum eine Chance hat durchzudringen.
Ich drehte mir einen Joint und rauchte ihn hektisch, während ich die Fotoalben einiger unbekannter Facebook-Freundinnen durchging. Allmählich war es Zeit, mir einen runterzuholen.
Niemand kann zufrieden sein
Antero geht es gut, er besitzt eine einträgliche Werbeagentur, ist zu Wohlstand gekommen, er ist verheiratet, hat ein Kind. Allerdings ist er von Verbitterung getrieben, denn Glück und Wohlbehagen kann man nicht kaufen.Emiliano arbeitet freiberuflich als Journalist, das Geld reicht zum Leben, aber man weiß nie, welche Aufträge in der Zukunft kommen werden, auch er ist nicht glücklich mit seinem Leben. Emiliano ist schwul, kann keine emotionale Ebene zu seinen wechselnden Liebschaften aufbauen, seine große, unerfüllte Liebe ist Duke. Ein Verlag bietet Emiliano an, über Duke eine Biografie zu schreiben. Ist es moralisch verwerflich, mit dem Tod eines Freundes Geld zu verdienen? Was sagen die Freunde dazu?
Weniger Ständer, Masturbation wäre mehr gewesen
Das Thema ist gut, aber es kam bei mir nicht an. Denn das eigentliche Thema in diesem Roman ist Sex. Damals, als sie glaubten, die Apokalypse stünde bevor, drehten die Freunde Minipornos, ein Thema, das ausgeweitet wird. Heute spielt Sexualität eine große Rolle, niemand ist glücklich in seinem Leben, mit seiner Sexualität, und alle paar Seiten hat einer der Protagonisten einen Ständer oder holt sich einen herunter. Das wird auf die Dauer langweilig, weil es aus Langeweile geschieht, an sich nichts Erotisches hat, nur Papier füllt. Daniel Galera schreibt verdammt gut, wortgewaltig, streckenweise. Diese Abschnitte sind wundervoll. Allerdings bleiben mir die Protagonisten fern, letztendlich ist die kultur- und netzkritische Aussage, die ich erwartet hatte, für mich nicht ernsthaft angegangen worden. Sisyphos, Marquis de Sade, Selbstzerstörung, viele Themen, aber wohin die Reise gehen soll, ist mir entgangen. Weniger Ständer, Masturbation und Sexfantasien hätten dem Text vielleicht zu mehr Tiefe verholfen. Mag auch sein, dass man nur als Mann mit dem Roman etwas anfangen kann.
Damals wollten wir die Welt verändern und sind bis heute keinen Schritt weitergekommen, so resignieren die Protagonisten in kollektiver intellektueller Depression. Heute genauso kaputt die Welt wie damals, nur eben anders. Was ist Leben, was ist der Tod und was kommt nach uns?
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