Rezension
von Sabine Ibing
Schattenbruder
von Iris Hannema
Dass einem etwas schmeckt, hängt mit den Erwartungen zusammen: Wenn man die Vorstellung auf das aufgibt, was man zu bekommen meint, ist man meistens sehr angenehm enttäuscht.
Dieses Zitat aus dem Jugendroman passt zu meinem Eindruck. Hebe, eine junge Niederländerin, Studentin ist in Trauer. Ihr großer Bruder, mit dem sie so viel verband, ist ertrunken. Er war ein Freediver – ein Meister – und er ist von einem Tauchgang aus Japan nicht zurückgekehrt. Der Klappentext fragt, wie er wirklich gestorben ist. Hebe will das herausfinden und fährt nach Japan. Der Leser vermutet ein Geheimnis, ein Komplott ... so waren meine Erwartungen. Was ich erhalten habe, ist zu dreiviertel Reiseliteratur, ein Streifzug durch Tokio und die japanische Küche. Dazu ein Mädchen, das sich as erste Mal allein zurechtfinden muss, Inneneinsichten, sich den Ängsten stellen.
Reiseliteratur für Tokio
‹Maah-giih-roo dan, hái›, nickt der Mann und dreht sich um. Er lächelt nicht, wirkt aber dennoch nett, eine seltsame Kombination. Ich habe vor meiner Abreise die folgenden Esswörter gelernt: Schwein-Katsu, Aal-Ungagi, Huhn-Tori, Garnele-Ebi, Rindfleisch-Gyu, Thunfisch-Maguro. Ich bestelle Thunfisch auf Reis.
Für mich wurde das Jugendbuch erst im letzten Viertel interessant, Ishigaki Bay, der Ort, an dem der Unfall geschah. Mich hat der Tokiostreifzug (der Großteil des Jugendromans) in der Länge gelangweilt. Suche ich eine Information über Tokio und seine Stadtteile, Schlemmertipps, dann besorge ich mir Reiseliteratur. Eine alleinreisende junge Frau, der gleich auf dem Heimatflughafen das Handy crashed und die nun auf die alte Art Weise analog, die Stadt erkundet, ständig in Gedanken an den Bruder und in der ständigen Angst überfallen zu werden (sehr merkwürdig). Klischee: Analog, um zu sich selbst zu finden – abgeschnitten in der Fremde. Hinzu kommt eine kleine Stalkergeschichte, die so gar nicht in das Konzept passt. Die Sitzplatznachbarin aus dem Flugzeug stalkt sie im «kleinen» Tokio – ein wenig unglaubwürdig. Doch irgendwie muss ja Spannung in die Kulinariktour gelangen ... anders kann ich diesen Einschub nicht verstehen. Nachgebetet ständig die Erklärung, wie schön das Leben ohne Smartphone ist ... Hebe spricht kein Japanisch, aber sie und ihr Bruder haben eine Affinität für die japanische Mentalität und alles Japanische; sie kennt sich in der Küche gut aus. Die Erzählerstimme war für mich nicht nachvollziehbar. Hebe schreibt in der Ichform in einer Art Tagebuchform. Hebe weiß, was sie sich zu essen bestellt, erklärt das dem Leser ausführlich bis zum letzten Gewürz. Das Konstrukt habe ich nicht verstanden, denn wenn ich Gedanken niederschreibe, erkläre ich mir selbst nicht, was ich schon weiß. Also wem erzählt die Erzählerin nun ihren Tagesablauf, dezidiert bis ins Detail? Da ist niemand als sie selbst! Wir befinden uns ja im Präsens. Für mich war der Plot ein wenig zusammengebastelt. Falsches Tempus oder falsche Perspektive, vielleicht sogar beides. Die Figuren sind für meinen Begriff mitten aus der Klischeekiste gezogen. Da ist noch Astrid, die beste Freundin, von der wir so gut wie nichts erfahren – eine Beziehung, über die sich Hebe Sorgen macht, ob sie etwas taugt – ebenso schwach und klischeehaft ausgearbeitet.
Nicht überzeugt
Die Oktopusbällchen werden mir vorgesetzt, acht Stück in Golfballgröße, überzogen mit einer dicken, karamellfarbenen Soße, dünne Fäden Mayonaise, Frühlingszwiebeln, getrockneten Algenflocken und sehr viel Katsuobushi, gelblichen Raspeln von geräuchertem und getrocknetem Bonito.
An der Ishigaki Bay, dem Unfallort, lernt Hebe den Australier Butler kennen, der zur Geschichte der Aum-Sekte recherchiert, die einen Anschlag auf die Tokioter Metro verübt hatte. Etwas, das unerklärt stehenbleibt. Ist er Student, Journalist ... warum recherchiert er und welche Hintergründe stecken hinter dieser Tat? Genau hier hätte die Geschichte interessant werden können. Klar – es muss noch ein wenig Love eingeschoben werden. Es gibt schöne Momente in dem Buch und gute Sätze – aber das alles lief aufgrund der vorherig beschriebenen Dinge an mir vorbei.
Viele englische Dialoge
Auch das, was nicht bleibt, kann ich bleibend lieben.
Es gibt eine Menge Dialoge in englischer Sprache, die ich sehr grenzwertig finde, insbesondere, als Hebe eine Beziehung mit Butler beginnt und die beiden sich nur noch in seiner Muttersprache unterhalten. Man muss schon recht fit sein im Englischen, um alles zu verstehen. Für ein Jugendbuch ab 14 Jahren nicht unbedingt förderlich. Mit der Altersempfehlung des Verlags Freies Geistesleben gehe ich mit, würde aber eher auf 15/16 Jahre aufstocken, denn die Geschichte handelt von Figuren mit dem Alter von 20+ Jahren, dazu das Englisch. Es ist alles Geschmacksache; ich fand die Erzählung eher langweilig, obendrauf unrealistisch und vom Aufbau weniger passend, zuviel Klischee. Dort, wo ich inhaltliche Auseinandersetzung erwartet hatte, fand sie nicht statt.
Iris Hannema ist eine Reisejournalistin und Weltreisende. In den letzten zehn Jahren hat sie mehr als hundert Länder auf fünf Kontinenten bereist. In den Niederlanden sind bereits Sachbücher und Bücher über ihre Reisen erschienen.
Schattenbruder
Originaltitel: Schaduwbroer
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Jugendbuch, Jugendroman, Reiseliteratur, Allage, Japan, Tokio, japanisches Essen,niederländische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 332 Seiten
Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
Freies Geistesleben, 2020
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