Direkt zum Hauptbereich

Rückkehr nach Eden von Paco Roca

 

Rezension

von Sabine Ibing



Rückkehr nach Eden


von Paco Roca


Als Antonia, die Mutter von Paco Roca, bei ihrem Sohn einzieht, ist sie völlig verstört, weil sie dieses Foto nicht finden kann. DAS Foto. Sie hat es immer bei sich getragen, ihr Leben lang stand es in ihrem Schlafzimmer. In der Fotokiste ist es nicht zu finden. Die Kinder suchen, werden glücklicherweise unter den alten Sachen noch fündig: Eine Strandidylle; ein Familienfoto, das 1946 am alten Strand von Nazaret in Valencia entstand. Die Idylle ist trügerisch. Denn ein paar Mitglieder der Familie fehlen. Der Guerra de Civil (1936–39), der Bürgerkrieg, ist gerade beendet. General Franco hat Macht übernommen. Paco Roca beginnt zu recherchieren, blättert seine Familiengeschichte auf. Er geht zurück bis zu den Eltern, den Großeltern, auch die Urgroßeltern werden kurz erwähnt. Eine ganz normale spanische Familie. Es herrscht bittere Armut – so wie bei den meisten Leuten zu dieser Zeit. Obwohl Antonias Mann eine Arbeit hat, kommt man eher schlecht als recht über die Runden. 



Nach dem Bürgerkrieg herrschte Mangel an allem. Sehr fein wird hier das Schwarzmarktsystem erklärt, eine künstlich geschürte Verknappung, mit der einige Menschen reich wurden. Im Laden ist durch dilettantisch organisierte Rationierung der Lebensmittel nichts zu haben, und wenn, dann sind die Waren teuer. Es herrscht Korruption. Auf dem Schwarzmarkt kann man alle Waren erhalten. Wer wenig Geld hat, muss sich hoch verschulden, um das wichtigste zum Leben zu ergattern. Antonia leidet, sie hat ständig Hunger. Nie ist genug zu essen da, Fleisch kommt nur in der Illusion vor. Dies ist die Geschichte von Antonia – aber auch die ihrer Geschwister, ihrer Eltern, deren Eltern. Jeder dieser Familienmitglieder erhält ein eigenes kurzes Kapitel, beginnend mit einem realen Foto. Die Männer arbeiten, soweit sie einen Job haben. Die Frauen kümmern sich um Haushalt und Kinder, suchen den Halt in der Kirche, denn Gott wird das Schicksal schon richten. Für den Pfarrer brät man auch ein Huhn, das man selbst gern essen würde, damit er eine Trauung vollzieht. Und klar, predigt der Pfarrer, das Leben ist kein Zuckerschlecken, die Eva ist schuld. Aber wer sich gut benimmt, wird nach dem Tod im Himmel reich belohnt. 



Das Schicksal von Amparín, der Schwester von Antonia, hat mich sehr berührt. Vom Vater verstoßen, weil sie zur Hölle fahren wird, zieht sie fort. Es gibt berührende Momente, wenn die Mädchen sich an Kleinigkeiten erfreuen, ihren Träumen nachgehen: ein Kinobesuch, die Attraktion, als ein Ballonfahrer in die Lüfte steigt. Historisches und Politisches ist eingeflochten. So Francos Pläne in Afrika, wobei er aber auf Hitlers Hilfe angewiesen war. Oder offizielle Statements des Staats, der die Armen als Faulpelze und Kriminelle deklarierte. Hinter jedem Armen steckt ein potentieller Krimineller, so die Devise. Der Priester, der hasserfüllt gegen die rote Bande hetzt. Im Sonntag ging die Familie an den Strand von Nazaret. Schön hier auch die alten Strandbars gezeichnet. Man brachte sich etwas zu Essen mit, setzte sich an die Tische und orderte lediglich die Getränke dort. Wir erfahren später, warum Antonia das Familienfoto so wichtig war. Denn die zur Schau gestellte Idylle gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Diesen Strand gibt es schon lange nicht mehr, er musste der Hafenerweiterung von Valencia weichen.



Reale Fotos, aber auch viele Bildsequenzen sind wie Fotos gesetzt. Obendrauf gibt das längliche Format der Graphic Novel den Anschein eines Fotoalbums. Die Farben sind im Retro-Stil gestaltet, Sepia-, Braun- und Grautönetöne, die Grafiken, Tuschzeichnungen, sind teils sehr detailliert. Ein Comic, aus dem Franquismus, der berührt, ein historischer Stoff, herausgegriffen am Beispiel einer Familie während der Franco-Diktatur. Bravissimo – davon wünsche ich mir mehr.


Paco Roca, geboren 1969 in Valencia, ist einer der erfolgreichsten Comiczeichner Spaniens. Seine Graphic Novel “Kopf in den Wolken”, in der er eindringlich den Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung nachzeichnet, wurde 2008 vom spanischen Kulturministerium mit dem Nationalen Comic-Preis bedacht. Die Verfilmung des Stoffs, für die Paco Roca selbst das Drehbuch verfasste, ist mehrfach preisgekrönt.


Paco Roca
Rückkehr nach Eden
Aus dem Spanischen übersetzt von André Höchemer
Lettering von Minou Zaribaf, Font: Paco Roca
Graphic Novel, Comic, Historische Novelle, Spanien, Franco-Diktatur,  Franquismus
Hardcover, 176 Seiten, 16,5 x 24 cm
Reprodukt Verlag, 2021


Weitere Comics zu Paco Roca:

Der Schatz der Black Swan von Guillermo Corral und Paco Roca

Eine wahre Geschichte um einen versunkenen Schatz. Obwohl ich den Kampf um einen Kulturschatz damals in den Medien verfolgt habe, liest sich diese Graphic Novel spannend. Vielleicht ist diese Graphic Novel so packend, weil der Autor, Guillermo Corral, früher einmal Diplomat war und einen überraschenden Einblick in die intrigante Verflechtung von Politik, Macht und Profit – eben schmutzige Geschäfte – offenlegt und deutlich wird, was damals geschah. Wem gehört der Schatz der spanischen Galeone »Nuestra Señora de las Mercedes«, die 1804 durch die britische Kriegsmarine befeuert wurde? Haben die Schatzsucher der Firma Odyssey versucht, den spanischen Staat auszutricksen?


Weiter zur Rezension:   Der Schatz der Black Swan von Guillermo Corral und Paco Roca


Graphic Novel, Comic, Grafisches  

Für die Fans von Comis / Graphic Novels und sonstigem Gezeichneten, wie Satire. Hier auf dieser Seite zusammengefasst.  Alle Altersgruppen. Graphic Novel, Comic, Grafisches

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Der Schriftsteller und die Katze von Nabiha Mheidly und Walid Taher

  Ein Buch über das Schreiben, die Entwicklung einer Geschichte, von Figuren. und der Beziehung des Schriftstellers zu seinen Charakteren. Am Anfang sucht man eine Idee, überlegt, verwirft und endlich passt eine … Ein Bilderbuch, eine gute Geschichte, ein Kindersachbuch über das Schreiben – aber nicht nur für Kinder! Weiter zur Rezension:    Der Schriftsteller und die Katze von Nabiha Mheidly und Walid Taher

Abbruch – In Schönheit sterben von Stefan Ulrich

Der erste Sat: Die Männer schwitzten unter ihren Motorradhelmen. Dies ist keine Rezension, sondern ein Abbruchbericht. Nach drei Seiten war ich eigentlich so weit, gebe aber einem Buch grundsätzlich 50 Seiten, manchmal verzeiht man die ersten Seiten, wenn sich Sprache und Geschichte zum Besseren wenden. Der erste Satz, nun ja, danach soll man nicht urteilen … Der »Tiber fließt Richtung Meer«. Ach nee, hätte ich nicht gedacht. Sprachlich haben mich die ersten Seiten so gar nicht begeistern können, aber vielleicht macht es die Story wett. Gianluca starrte auf ihre gewölbten Hüften. ›Che razza di culo!‹, entfuhr es ihm. ›Was für ein Wahnsinnsarsch!‹  Starrt auf die Hüften, benennt aber den A… und sagt das auch noch zweisprachig? Diese Frau ist die Tochter eines Gastwirts, der angeblich Geld mit der Tochter macht. Die Leute kommen zum Essen, um diesen Hintern zu sehen. Nicht wegen der guten Küche?  Die gewölbte Stirn, die geröteten Wangen, die schmalen, hochgeschwung

Rezension - Medusa und Perseus von André Breinbauer

  Der Mythos Medusa neu erzählt als Graphic Novel. War Medusa ein Monster? War Perseus ein Held? Der Wende-Comic erzählt die bekannte Überlieferung aus der Perspektive beider Figuren ein wenig anders: Medusa ist nicht das Ungeheuer, das aus Bosheit Menschen zu Stein verwandelt. Von einem Gott missbraucht und einer Göttin dafür bestraft ist sie ein zweifaches Opfer der Götter. Perseus hingegen ist noch ein Kind und wird zum Spielball der Mächtigen. Mit eindrücklichen Bildern erkläret der Comic, der von zwei Seiten zu lesen ist, die griechische Mythologie. In der Mitte treffen die beiden zusammen; das unvermeidbare Ende für Medusa. Allage-Comic ab 14 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Medusa und Perseus von André Breinbauer

Rezension - Der große Sommer von Ewald Arenz

  Gesprochen von Torben Kessler Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 7 Std. und 35 Min. Ein fluffiger Stoff mit Sommerfeeling – in tristen Wintertagen ein Hörspaß. Dieser nostalgische Coming-of-Age-Roman spielt im Sommer 1981. Der 17-jährige Frieder bekommt seine Strafe: Versetzung gefährdet – außer er besteht die Nachprüfung. Klotzen in den Sommerferien ist angesagt. Während die Familie in den Urlaub fährt, wird Frieder bei den Großeltern einquartiert. Latein und Mathe lernen mit dem mürrischen, strengen Großvater. Der erste Sprung vom Siebeneinhalber, die erste Liebe, Familiengeheimnisse, ein Trauerfall, eine Katastrophe ...  Weiter zur Rezension:    Der große Sommer von Ewald Arenz

Rezension - Origins - Indigene Kulturen der Welt von Nat Cardozo

  Für viele Menschen ist unsere Art zu leben die einzige, die sie kennen, bzw. für richtig halten. Die Europäer haben vor ein paar hundert Jahren einen Großteil der Welt erobert und mit dem Schwert ihre Kultur und ihren Glauben durchgesetzt, aus verschiedenen Gründen viele alte Kulturen ausgelöscht. Doch einige sind übriggeblieben, Menschen, die im Einklang mit Natur und Umwelt leben. Dieses Sachkinderbuch ab 8 Jahren vermittelt einen Einblick in traditionelle Kulturen und natürliche Lebensarten. Ein atmosphärisches Kinderbuch, spannend und informativ zum Thema Kulturvielfalt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Origins - Indigene Kulturen der Welt von Nat Cardozo

Rezension - Das verschwundene Meer von Carlos Franz

  Zwanzig Jahre, nachdem sie als Richterin abgesetzt wurde und aus ihrem Heimatland Chile nach Berlin floh, kehrt Laura Larco in die Kleinstadt Pampa Hundida zurück, eine in den Weiten der Atacama-Wüste verlorene Oase. Lauras Tochter hatte ihr unangenehme Fragen zu ihrer Stellung während der Pinochet-Diktatur gestellt und war ins Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, um ebenfalls Jura zu studieren. Gleichzeitig kehrt auch Major Cáceres dorthin zurück, der damals, nach dem Militärputsch gegen den Präsidenten Salvador Allende, als Kommandant eines Lagers für politische Gefangene am Stadtrand agierte. Laura nimmt den Posten als Richterin wieder auf, um den Major vor Gericht zu stellen. Wie funktioniert Diktatur und was macht sie aus dir? Ein guter Roman aus Chile, ein wichtiges Werk der lateinamerikanischen Literatur. Empfehlung. Weiter zur Rezension:    Das verschwundene Meer von Carlos Franz

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die besten Weltuntergänge von Andrea Paluch und Annabelle von Sperber

  Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder Eigentlich ist der Titel falsch, denn dieses Bilderbuch ab 8 Jahren entwirft zwar zwölf Szenarien für unsere Zukunft, doch die Welt wird nicht untergehen. Aber vielleicht der Mensch. Manche dieser Bilder sind bedrückend, andere sind beglückend. Wird eine große Dürre kommen, werden unsere Städte einmal frei von Autos sein oder müssen wir uns auf Raumschiffe retten? Alle diese Vorstellungen öffnen unsere Fantasie für die Frage: Wie wollen wir leben? Die meisten Szenarien sind freundlich, bzw. sie zeigen auf, dass der Mensch Lösungen finden kann. Ein klasse Kinderbuch, um über unsere Zukunft zu diskutieren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Die besten Weltuntergänge von Andrea Paluch und Annabelle von Sperber

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Rezension - CRAFTBOOK – Hexe Hilaria von Gabriele André, Wolfgang André und Anton Hackner

  Das Craftbook Band 22 Das Craftbook «Hexe Hilaria» ist eine Mischung aus Malbuch und Spaßaufgaben. Hier gibt es lustige Elemente zum Ausmalen und laut Klappentext ist auch das Fotokopieren für mehrmaligen Gebrauch erlaubt. Ausmalen, nach Zahlen malen, Doppler finden, zählen, Irrgarten, Puzzle ausschneiden und zusammensetzen, ein witziges Beschäftigungsbuch ab 5 Jahren. Weiter zur Rezension:    CRAFTBOOK – Hexe Hilaria von Gabriele André, Wolfgang André und Anton Hackner