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Paradise City von Zoë Beck - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Paradise City

 
von Zoë Beck


Der Anfang: Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur noch dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. … Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.

Zoë Beck schreibt schnörkellos, auf den Punkt gebracht – und sie schreibt Thriller. Dies ist nun ihr zweiter dystopischer Thriller aus der nahen Zukunft. Wie könnte die Welt demnächst aussehen? In dieser Welt sind die Küstenregionen überschwemmt, die Menschen leben zumeist in Megacitys – Frankfurt, die Hauptstadt, erstreckt sich bis Gießen. Berlin ist eine Art Museum-Freizeitpark. Die Uckermark ist ländlich, ursprünglich, wilddurchzogen, Bären und Wölfe leben in den Wäldern. Diese Welt ist total in Ordnung, alle Menschen fühlen sich wohl, um die Volksgesundheit steht es so gut wie noch nie.

Das Team von Liina und Özlem glaubt nicht an Zufälle

Sein Smartcasesignal bewegt sich … die einzelnen Tage unterscheiden sich nur gering, was die zurückgelegten Strecken und Uhrzeiten angeht. Auch die Laufstrecke ist nahezu identisch. Es gibt kleinere Abweichungen, aber das Prinzip bleibt gleich. Keine Überraschungen. Das Leben eines strukturierten, disziplinierten, langweiligen Menschen.

So der erste Schein. Liina arbeitet als Rechercheurin für ein Nachrichtenportal – eins der wenigen nichtstaatlichen. Sie und ihre Kollegen müssen vorsichtig agieren, denn sie sind in der Regel an ziemlich heißen Storys dran. Aber letztendlich schert sich niemand mehr um die Wahrheit. Als Yassin, ihr Chef, Liina in die Wildnis der Uckermark sendet, um angebliche Schakalbisse an einer toten Frau nachzurecherchieren, ist sie stinksauer, ein unbedeutender Fall. Auch noch ein Fake. Das war doch vorher klar. Doch als sie zurückkehrt, liegt Yassin im Coma – ein angeblicher Selbstmord, er sei vor einen Zug gesprungen. Auf den Videoaufnahmen des Bahnhofs kann man nicht viel erkennen, da einige Personen um Yassin herum Videobocker benutzten. Kurz darauf stirbt die Journalistin Kaya Erdens, die mit Yassin an einem Projekt gearbeitet hat. Herzversagen. Das Team von Liina und Özlem glaubt nicht an Zufälle. Nur an welcher Story hatten die beiden gearbeitet und wo haben sie ihre Notizen versteckt? Die Redaktion steht vor einem großen Rätsel, das sie zu knacken gedenken.

Vernetzt, getrackt, überwacht 

Liina merkt, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt. Es ist Zeit für ihre Medizin. Sie beugt sich vor, greift in ihre Bodybag, zieht das Fläschchen mit den den Tabletten heraus und nimmt ein.

Liina ist am Leben. Eine Tatsache, die sie der modernen Medizin zu verdanken hat. Drei Leben – in ihrem Körper steckt bereits das dritte Herz. Wie alle Menschen ist sie mit der staatlichen KOS verbunden, eine APP, die Vitalwerte misst und algorithmisch auswertet. KOS erinnert Tabletten zu nehmen, Vitamine, mahnt zu trinken, zu schlafen, und je mehr Messdaten man zulässt, umso mehr Punkte erhält man im sozialen System. Natürlich trackt KOS auch den Standort, denn für den Ernstfall muss ein Krankenwagen schnell eine Person lokalisieren können. Liina muss auf ihre Gesundheit achten, denn sie ist gefährdet. KOS auszustellen kann für sie lebensbedrohlich sein. Das Smartcase ersetzt die Brieftasche: Ausweise, Karten, Gesundheitsdaten, Mailing, eine Weiterentwicklung des heutigen Smartphones.

Alles zu einem guten Zweck, zur eigenen Sicherheit?

Mit dem Smartcase bezahlt man, es dient als Personalausweis, sämtliche Zugangsberechtigungen – ebenso wie die Bereiche, für die man gesperrt ist – sind darauf gespeichert, die Gesundheitsdaten sind darüber im Notfall abrufbar, einfach alles.

Zoë Beck beschreibt die Folgen von staatlichem Machtmissbrauch durch Smart-Technologie und smarten medizinischen Möglichkeiten, dies alles in einer Wohlfühlgesellschaft, die sich blind überwachen lässt. Masern, eine Pandemie und Resistenz gegen Antibiotika hatten die Bevölkerung in den 2030er Jahren um vierzig Prozent reduziert … – das Manuskript lag bereits 2019 im Lektorat – ein erschreckender Blick in die Zukunft. Die Autorin hat sicher 2020 einen Schreck bekommen, wie voraussehend diese Story letztendlich ist. Ein spannender Plot mit gut ausgearbeiteten Figuren und einem postapokalyptischen Thema machen den Roman zum Lesevergnügen. Wie weit wollen wir uns überwachen lassen? Alles zu einem guten Zweck, zur eigenen Sicherheit? Wie weit wollen wir uns im Alter bestimmen lassen von einer Gesundheitsapp? Wohlfühljournalismus, Tracking, Gesundheitsüberwachung, Klimaerwärmung, die Entwicklung zu Miga-Citys – alles zusammen, für mich eine vollstellbare Zukunft. Zoë Beck ist immer für ein politisches, gesellschaftliches Thema zu haben, alle ihre Romane besitzen große Aussagekraft. Und jeder ist völlig anders. Das ist erfrischend. Die Autorin ist zweisprachig und arbeitet ebenso als Übersetzerin für englischsprachige Romane. Insofern habe ich mich köstlich über eine versteckte Ironie amüsiert. Liina, die gesundheitlich sehr auf sich achten muss, auch in lebensbedrohliche Situationen gerät, trägt immer ihren Bodybag mit sich herum. Im deutschsprachigen Raum bezeichnet man so Rückentaschen, bei der der Korpus mit einem Riemen diagonal über Brust und Rücken geschultert wird. Im Englischen ist ein body bag ein Leichensack. Ich bin jedes Mal bei dem Wort zusammengezuckt und musste schmunzeln.


Zoë Beck, geboren 1975. Schule und Studium in Deutschland und England. Schriftstellerin, Übersetzerin (u. a. Amanda Lee Koe und James Grady), Verlegerin (CulturBooks), Synchronregisseurin für Film und Fernsehen. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Zoë Beck zählt zu den wichtigsten deutschen Krimiautor*innen und wurde mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis, dem Radio-Bremen-Krimipreis und dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnet.


Zoë Beck
Paradise City
Thriller, Dystopie
Suhrkamp, 2020
Paperback, 282 Seiten




Interview mit Zoë Beck 

Interview mit Zoë Beck (Schriftstellerin, Publizistin, Verlegerin)

Weitere Rezensionen zu Zoë Becks Romanen:



Ein Thriller, der passend zum Thema sich mit Antibiotikaresistenzen beschäftigt und mit der Gutgläubigkeit der Massen:

Resistent von Paul McNeive 

Tsan Yohoto gehört das größte Pharmaunternehmen Japans. Er könnte glücklich sein, doch Rache nagt an ihm, seit seine Familie 1945 in Hiroshima durch die amerikanische Atombombe getötet wurde. Lange hat Yohoto an einem perfiden Plan geschliffen. Vereint mit Al-Qaida will er eine Masse von Bewohnern New Yorks umbringen. Mehr oder weniger unbemerkt, denn die werden freiwillig ein beworbenes Antibiotikum zu sich nehmen, über Monate. Und weil Geiz geil ist, werden sie Burger einer Fastfoodkette verschlingen – denen eines Tages E-Coli-Bakterien zugesetzt werden …
Weiter zur Rezension:  Resistent von Paul McNeive




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch - einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller



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