Direkt zum Hauptbereich

Meine dunkle Vanessa von Kate Elizabeth Russell - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Meine dunkle Vanessa 


von Kate Elizabeth Russell


Ich weiß was er denkt, was jeder denken würde – dass ich ihn verteidige und dadurch weiteren Missbrauch ermögliche –, aber ich nehme hier nicht nur Strane in Schutz, sondern auch mich selbst. Denn obwohl ich mitunter den Begriff ‹Missbrauch› verwende, um gewisse Dinge zu beschreiben, die mit mir angestellt wurden, nimmt das Wort, wenn es ein anderer ausspricht, einen so hässlichen, absoluten Klang an. Es schluckt alles, was geschehen ist. Schluckt mich und die vielen Gelegenheiten, als ich es selbst wollte, darum gebettelt habe.


Vanessa, heute über 30 Jahre alt, erinnert sich: Mit 15 kehrt sie im zweiten Jahr ins Internat zurück, doch mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin hat sie sich zerstritten und freut sich nun auf ihr Einzelzimmer. Sie ist eine Einzelgängerin, hat keine Freunde, und sie liebt Literatur. Ihr neuer Englischlehrer, Jacob Strane, schenkt ihr Aufmerksamkeit. Er lobt ihren Fleiß, ihre Arbeiten und sogar ihr hübsches Kleid. Ein kurzer Griff auf ihr nacktes Knie, Blicke, schöne Worte, er gibt ihr erotische Bücher zu lesen, wie Lolita. Auf einem Fest sagt er ihr draußen unter den Bäumen, dass er sie gern küssen würde, aber nicht darf, dass er noch nie so fasziniert war von einer Frau wie von ihr. Der Lehrer, 27 Jahre älter, hat sie am Haken. Er lässt sie glauben, dass sie ihn verführt. Es entwickelt sich ein sexuelles Verhältnis, von dem Vanessa annimmt, es wäre Liebe. Vor jeder Handlung fragt Strane: Darf ich das? Natürlich darf er, so rücksichtsvoll, wie er immer fragt – so, wie es sein soll. Letztendlich macht Strane mit Vanessa, was er will, und ihr macht des Sex keinen Spaß. Ständig macht er Fotos von der nackten Vanessa. Sie merkt nicht, dass diesem Sex die Zärtlichkeit fehlt, die innige Verbindung zwischen zwei Menschen. Und genau das wird später ihr Problem sein: Sie ist nicht beziehungsfähig. Liebe und Sexualität werden verwechselt, weil sie lernte, dass sexuelles Verhalten belohnt wird. So wird bei Missbrauchten im Erwachsenenalter Sexualität als Mittel eingesetzt, um Zärtlichkeit und Zuwendung zu bekommen. Und Vanessa hängt zusätzlich immer noch an den Fäden von Jacob Strane, der sie zu einer Marionette machte.


Sie ist seine einzige Liebe! 

Wer es selbst will, kann nicht vergewaltigt werden, oder?


Missbrauch mit Abhängigen, Verführung Minderjähriger ... Alles geschieht mit ihrem Einverständnis, so glauben die Jugendlichen. Sie sind die Verführer, sie sind schuld; und sie sind einzigartig, sie sind das Juwel des Verführers, so wird ihnen suggeriert. 17 Jahre später, ein Mädchen namens Taylor nimmt mit Vanessa Kontakt auf und bittet sie um Beistand. Auch sie ist ein Opfer von Jacob Strane und sie hat den Missbrauch erkannt, die Sache öffentlich gemacht. Strane ist zunächst suspendiert. Vanessa telefoniert mit ihm, sie treffen sich und sie verspricht, ihr gemeinsames Geheimnis zu hüten. Die ganze Zeit stand sie mit ihm in Verbindung, sie führten ihre Beziehung über Jahre weiter. Je älter sie wurde, um so weniger Interesse hatte Jacob an ihr. Gleichwohl sie springt wie ein Hündchen, wenn er pfeift. Sie ist seine einzige Liebe! Mit Taylor war nicht wirklich etwas, nur Harmloses, sagt er. Taylor versucht weiter, zu Vanessa Kontakt zu bekommen, doch die blockt ab, genauso eine Journalistin, die sie kontaktiert. Jacob hat sie nicht verführt, alles lief mit ihrem Einverständnis – sie war diejenige, die diese Beziehung wollte. Sie kann ihn nicht ausliefern, verraten. 


Er suggeriert ihr sogar, dass sie Macht über ihn besäße

Das sind echte Raubtiere. Mit einem Gespür dafür, welches Tier der Herde am schwächsten ist.


Dieser Roman ist wichtig, denn er zeigt auf, wie Jugendliche manipuliert werden und missbraucht. Menschen wie Jacob Strane haben einen Jagdinstinkt. Sie suchen ihre Opfer sorgsam aus. Vanessa wohnt im Einzelzimmer, in einem Haus auf dem Campus, das ihr die Möglichkeit gibt, nachts unerkannt zu entwischen. Sie hat keine Freundinnen, keinen Freund. Sie ist bereits isoliert und darum wird sie nichts verraten, stolz sein auf das Geheimnis zwischen Strane und ihr. Er suggeriert ihr sogar, dass sie Macht über ihn besäße, weil sie die Einzige sei, die er liebe, sie es in Hand habe, ob sie beide in den Abgrund stürzen oder nicht. Sie könne ihn vernichten. Und als der Verdacht aufkommt, es laufe etwas zwischen ihnen, nimmt sie es auf sich, vor versammelter Lehrer- und Schülerschaft zu sagen, sie habe gelogen. Sie muss die Schule verlassen, das Opfer wird abermals zum Opfer gemacht. Doch die Liebschaft geht weiter, über Jahre ... er hat sie in der Hand, lässt das Band nie zerreißen. 


Die Beute, die sich selbst als Jäger sieht

Immer wieder wird Vanessa von Taylor und der Journalistin kontaktiert. Die Icherzählerin weigert sich hartnäckig, Strane zu belasten, auch als immer mehr Mädchen sich melden, die von ihm missbraucht wurden. Die Icherzählerin wechselt zwischen dem Jetzt und ihren Gedanken an die Jahre zurück. Sie wollte die Beziehung. Sie hat ihn verführt. War es wirklich so?, fragt sie sich. Waren da noch andere? Was lief mit denen, hat er ihnen das Gleiche erzählt? Oder ist sie wahrhaftig seine einzige Liebe? Wenn Sie gegen Stane aussagen würde, müsste sie offen erzählen, was damals geschah. Auch dazu ist sie nicht bereit. Der Roman greift die Rolle des Opfers auf. Die Beute, die sich selbst als Jäger sieht, erst langsam versteht, dass es sich umgekehrt verhält. Stück für Stück erkennt Vanessa, was diese Beziehung aus ihr gemacht hat. Eine Art vom Missbrauch, über den wenig Literatur existiert. Und es ist wichtig, dass Kate Elizabeth Russell dem eine Stimme gibt. Literarisch ist das kein großer Wurf – doch anständig geschrieben. Die Story hat einige Längen, verknappt wäre die Wirkung sicher noch eindringlicher gewesen. Aber summa summarum ist diese ein lesenswertes Buch, das ein bedeutsames Thema aufnimmt.  Solange die Opfer schweigen, hat die Schulbehörde keine Handhabe – und wenn sie reden, werden sie oft ein weiteres Mal zum Opfer gemacht, weil man sie der Lüge bezichtigt. Der liebende Lehrer wird seinen Moralstandpunkt, ihm nicht seine Karriere zu zerstören, gegen das Opfer einsetzen, es psychisch unter Druck setzen – so zumindest sieht meist die Realität aus. Es gilt leider heute noch als Kavaliersdelikt in der Lehrerschaft, auch hier wird das Opfer kaum Unterstützung finden, das ja als Schutzbefohlene gilt. 


Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert. Ihr Debütroman «Meine dunkle Vanessa» stieg direkt nach Erscheinen in die Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste ein. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.



Kate Elizabeth Russell 
Meine dunkle Vanessa
Roman - New-York-Times-Bestseller, amerikanische Literatur
Hardcover, 448 Seiten
C. Bertelsmann, 2020



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck