Rezension
Zeitgenössische Romane
von Sabine Ibing
Mein Name ist Estela von Alia Trabucco Zerán
Gesprochen von: Heike Warmuth
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 32 Min.
«Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit. Sonst stand da nichts, außer einer Telefonnummer, die sich bald in eine Adresse verwandelte, zu der ich mich in weißer Bluse und dem gleichen schwarzen Rock aufmachte, den ich auch jetzt trage.»
Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu – das hofft sie jedenfalls. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede, ohne das je anzusprechen, schon gar nicht anzuprangern. Estela hatte sich auf eine Stellenanzeige beworben, war sofort eingestellt worden. Sieben Jahre hat sie im Haus der Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene in diesem Haus. Das Mädchen ist allein – es hat nur sich – und Estela, wäre da nicht die Mutter, die eifersüchtig jede aufkeimende Nähe zwischen dem Hausmädchen und dem Kind zerschlägt. Eine ehrgeizige Mutter, eine Anwältin, die keine Zeit für das Kind hat, ein bestimmender Vater, ein Arzt, der genauso wenig für das Kind da ist. Estela weiß alles über diese Familie. Sie weiß, wie der Mann nackt aussieht, sie kennt die intimen Inhalte jeder Schublade und die dünnen Wände im Haus lassen nicht das kleinste Geheimnis zu.
«Alles in diesem Haus ein Wettlauf gegen die Zeit.»
Estela spricht den Lesenden direkt an, spricht mit denen, die hinter einer imaginären Glasscheibe sitzen – hört ihr zu?, fragt sie. Sie wurde gut behandelt, sagt sie; der Lohn war gut und niemand hat ihr je etwas angetan, die Herrschaften waren immer fair. Estela ist der unsichtbare Geist im Haus, der alles in Ordnung hält, einkauft, kocht, putzt – auf das Mädchen aufpasst. Die ehrgeizige Señora zeigt für alles und jeden auf der Welt Verachtung, irgendwann auch für ihren Mann. Und er? Ein Mann der seinen Beruf hasst, er hasst die Kollegen, das Krankenhaus, die Patienten. «Wie würden Sie eine Person definieren, die nicht raucht, die kaum trinkt, die, bevor sie den Mund aufmacht, jedes Wort abwägt, abmisst, um so unbedachte Antworten zu vermeiden, die nur Zeit kosten würden?» Beide stehen ständig unter Strom. Niemals gibt es ein böses Wort gegen Estela, und doch umgibt diesen Haushalt eine eisige Kälte, subtile Demütigungen für Estela. Mitten drin dieses Kind, das in der warmherzigen Estela Halt sucht – was die Mutter zu verhindern weiß.
«Ich kann mir vorstellen, dass ihr euch mittlerweile fragt, warum ich weiter dort blieb.»
Und die nächste Frage, die Estela an uns richtet: Warum verbleiben wir in unseren Jobs, wenn sie uns nicht erfüllen, wenn wir sie nicht mögen? Immer wieder sucht die Protagonistin den Kontakt zum Lesenden. Sie berichtet von ihrem Leben in diesem Haus, ein Kammerspiel zwischen vier Personen; alles spielt sich hier ab. Estela ist einsam, sucht sich einen Freund: Einen Straßenhund, den sie hin und wieder ins Haus lässt, was irgendwann eine Katastrophe auslösen wird. «Malt ein Sternchen zwischen eure Notizen, markiert, was jetzt noch kommt, denn ab jetzt fällt das Kartenhaus in sich zusammen.» Das Leben wird immer unerträglicher, in der Famile lauert jeder dem andern auf, die Stimmung ist bedrückend. Auch das Mädchen lernt, das Estela keine Freundin ist, sondern eine Angestellte, der man sagt, was sie zu tun hat. Das Mädchen ist am Ende tot – so wie Estela gleich am Anfang klar macht. Wer ist schuld an ihrem Tod?
Ein beeindruckender Roman. Alia Trabucco Zerán schaut genau hin und zerpflückt das Gesellschaftssystem in seine Einzelteile, blickt hinter alle schmutzigen Ecken. Hier werden gleich verschiedene Ebenen angesprochen. Der Unterschied zwischen reich und arm, das Los der Hausangestellten; das Rennen nach dem Erfolg – das Geld allein nicht glücklich macht. Auch der emanzipatorische Aspekt wird nicht ausgelassen, das Machogehabe der Latino-Männer. Ein spannender Roman, der Spaß macht, ein Geschichte mit Tiefgang, die sprachlich absolut ausgefeilt ist. Empfehlung!
Alia Trabucco Zerán, geboren 1983 in Santiago de Chile. Ihr Debütroman «Die Differenz» (2021) wurde für den International Booker Prize nominiert und 2022 mit dem British Academy und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Mein Name ist Estela ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.
Mein Name ist Estela
Originaltitel: Limpia
Gesprochen von: Heike Warmuth
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 32 Min.
Aus dem Spanischen übersetzt von Benjamin Loy
Argon Verlag, Audible, 2024
Hanser Verlag, 2024, Hardcover, 240 Seiten
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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