Rezension
von Sabine Ibing
Mama Odessa
von Maxim Biller
Gesprochen von Jens Harzer
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 5 Std. und 23 Min.
Maxim Biller sagt, es sei sein letzter Roman. Maxim, bitte tu uns das nicht an – du wirst mit jedem Buch besser! Das hier darf nicht das Letzte sein! Wie immer zieht sich der Autor den Stoff aus seinem Leben. Eine Hommage des Erzählers an seine Mutter, die ihr geliebtes Odessa verlassen musste, nicht wie versprochen in Israel landete, sondern im kalten Hamburg. Die Welt der russisch-jüdischen Familie ist bewegt, voller Geheimnisse, Verrat, Verletzungen und prall gefüllt mit Literatur. Die Geschichte über einen Sohn und seine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, sich wegen des Schreibens immer wieder verraten – und einander trotzdem nie verlieren.
Auch die Mutter kann schreiben
‹Wusstest du›, sagte ich, erstaunt über meine plötzliche Einsicht und Ehrlichkeit, ‹dass ich das von dir gelernt habe?›
‹Was hast du von mir gelernt?›
‹Dass man sich nichts wirklich ausdenken muss. Keine deiner Geschichten ist ausgedacht. Darum sind sie so gut.›
Sie lächelte kalt, aber aufrichtig, wie eine Märchenfigur, die man nach einem monatelangen Tiefschlaf aufgetaut hat. ‹Ach so?›, sagte sie.
‹Ja›, sagte ich.
‹Okay›, sagte sie, ‹na und? Das war mein Stoff, verstehst du? Du hast ihn mir geklaut. Du warst doch damals gar nicht dabei.›
Alles hängt bei Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt, aber die Ehefrau trifft. Die zionistischen Träumereien des Vaters, seine Liebe zu Israel, wo er nie ankommen wird – der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet. Die Sehnsucht nach Odessa der Mutter, die durch eine erzwungene Emigration an einen Ort landet, in dem sie nie ganz ankommen wird. Der Ort, der die Familie zerbrechen lässt, weil der Vater sie wegen einer Deutschen verlässt, und auch das Band zwischen Vater und Sohn zerreißt. Eine Frau, die in ihrer Melancholie versinkt, ihren Hass auf die «Nazi-Hure» nie überwinden kann, ihr bis zum Ende keinen anderen Namen geben kann. Warum war sie nicht in Odessa geblieben?, fragt sie sich ihr Leben lang. Der Sohn hat sich als Schriftsteller einen Namen gemacht; sie selbst hätte gern geschrieben – aber er hat längst all ihre Geschichten erzählt. Doch da sind noch ihre Kurzgeschichten … Der Sohn überlistet die Mutter, lockt sie, vermittelt ihr einen Verlag, um sie aus ihrer Lethargie zu befreien. Das Buch erscheint und die Mutter ist Feuer und Flamme, weiter zu schreiben. «Mama wurde als Schriftstellerin geboren, aber sie wurde es zu spät, um wirklich eine zu werden.» Doch zu einem zweiten Buch kommt sie nicht mehr, die Nachwirkungen eines Giftanschlags des KGB vor langer Zeit haben Spuren hinterlassen. Ihre Lunge macht nicht mehr mit und sie stirbt. Der Traum der Mutter: Odessa; der Traum des Vaters: Tel Aviv. Warum blieben sie eigentlich hier in Hamburg, fragt sich der Icherzähler, wenn ihnen diese Stadt ihnen gar nicht gefiel?
Eine Ode an die Mutter und an die multikulturelle Hafenstadt Odessa
Warum habe ich dich nicht ein bisschen fröhlicher geboren?
Auf der einen Seite ist dies eine traurige Geschichte mit melancholischem Sound; auf der anderen schwingt Humor und und Zuversicht durch, eine poetisch-zärtliche Auseinandersetzung mit der Familie. Der Icherzähler berichtet, wie er neu angekommen in Hamburg von den anderen Kindern über den Pausenhof gejagt wurde, weil er nur gebrochen Deutsch sprach. Doch er revanchierte sich, lernte, bis «sie Angst vor mir und meinen Beleidigungen hatten». Der typisch sarkastische Sound mit einem Schlag Snobismus Billers ist unverkennbar. Der Sohn findet nach dem Tod der Mutter Briefe an ihn – die sie aber nie abschickte, alle in Umschläge gesteckt, adressiert, mit Briefmarken versehen. Ein Vermächtnis, die Bitte, ihre Geschichte aufzuschreiben. Vergleicht man diesen Roman mit der Familiengeschichte, so ist sie in vielen Teilen stimmig, und man kann den Stoff als autofiktional bezeichnen. Lass uns nach Odessa reisen, beschwört die Mutter immer wieder den Sohn (Biller selbst ist nicht in Odessa geboren, sondern in Prag, wohin die Eltern zunächst aus Russland flohen, bevor es weiter nach Hamburg ging. Und die Mutter hat auch nie in Odessa gelebt). Maxim Biller schrieb in Die Zeit, er sei zwei Jahre vor Kriegsbeginn zum ersten Mal in Odessa gewesen und habe beschlossen, bis an sein Lebensende jeden Sommer dort zu verbringen. Eine Ode an die multikulturelle Hafenstadt Odessa mit mediterranem Flair – die heute von russischen Bomben beschossen wird. «Kurz vor dem Ukraine-Krieg habe ich ein Buch zu Ende geschrieben – mein letztes», so Biller.
Großartig erzählerisch miteinander verwoben
Was meine Eltern nicht wussten, und was auch die meisten Deutschen nicht ahnten, die damals zwischen Rothenbaumchaussee, Hochallee und Rutschbahn wohnten: Das Grindelviertel, das unser neues kleines Odessa wurde, war vor dem Krieg voll mit Synagogen, koscheren Kantinen und Rabbinerschulen gewesen.
Ein literarisches Meisterwerk. Ich ziehe meinen Hut. Eine Familiengeschichte, eine jüdische Geschichte, deutsche Geschichte, sowjetische Geschichte und deutsche Gegenwart; «man hat wieder was gegen euch», merkt ein Chefredakteur an. «Gegen uns?», fragt der Icherzähler. Ein Roman, der geschickt zwischen den Zeiten hin und her gleitet, zurück bis zum Großvater, Erzählungen der Mutter, ihre Briefe, Erinnerungen des Protagonisten – und zurück in die Gegenwart. Das ist großartig erzählerisch miteinander verwoben.
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman «Die Tochter», die Erzählbände «Sieben Versuche zu lieben», «Land der Väter und Verräter» und «Bernsteintage». Seinen Liebesroman «Esra» lobte die FAS als «kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch». Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling «Wenn ich einmal reich und tot bin» (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir «Der gebrauchte Jude» (2009), die Novelle «Im Kopf von Bruno Schulz» (2013) sowie der Roman «Biografie» (2016), den die SZ sein «Opus Magnum» nannte. Sein Bestseller «Sechs Koffer» stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman «Der falsche Gruß» (2021) schrieb die NZZ: «Das ist große Kunst.»
Gesprochen von: Jens Harzer
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 5 Std. und 23 Min.
Argon Verlag, Audible, 2023
Kiepenheuer & Witsch Verlag 2023
Sechs Koffer von Maxim Biller
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Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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