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Kleine Dinge wie diese von Claire Keegan - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Kleine Dinge wie diese 


von Claire Keegan


Der Anfang: 

Im Oktober färbten sich die Bäume gelb. Dann wurden die Uhren eine Stunde zurückgestellt, und die Novemberwinde kamen, wehten unablässig übers Land und entblößten die Bäume. In der Stadt New Ross stießen die Schornsteine Rauchschwaden aus, die sich herabsenkten und in haarfeinen, langgezogenen Fäden davonschwebten, bevor sie sich entlang der Kais verteilten, und bald schwoll der Fluss Barrow, dunkel wie Stout, mit Regenwasser an.


Irland, 1985, Kohlen- und Holzhändler Billy Furlong hat es geschafft. Er gehört zur Mittelschicht, ist glücklich verheiratet und er hat fünf wundervolle Töchter. Die Ältesten besuchen die katholische Schule des örtlichen Klosters. Für ihn hätte es ganz anders ausgehen können, denn er war als uneheliches Kind eines minderjährigen Hausmädchens zur Welt gekommen. Die Gutsherrin hatte sie nicht hinausgeschmissen; im Gegenteil, sie war der Mutter behilflich, sorgte für Furlongs Schulausbildung und gab ihm ein Startkapital für sein Geschäft. 


Was geht vor im Kloster?

Vor Weihnachten hat Furlong viel zu tun, jeder möchte an den Feiertagen eine warme Stube haben. Das Kloster vor Ort ist ein guter Kunde, begleicht sofort die Rechnungen; nicht wie andere Kunden, denen er hinterherrennen muss. An einem frühen Sonntagmorgen liefert er Kohle aus; niemand ist zu sehen. Als er nach einem Zugang sucht, findet er durch Zufall in einem Kohleschuppen ein eingesperrtes Mädchen, barfuß, spärlich gekleidet, durchfroren und verängstigt. Sie behauptet, man hätte ihr ihr Baby weggenommen und bittet Furlong, sie zum Fluss zu bringen, wo sie sich ertränken will. Die Äbtissin beruhigt Furlong, das alles wäre ein Versehen beim Absperren gewesen, man hätte nicht gewusst, dass das jemand im Schuppen wäre. Das Weihnachtsgeld fällt dieses Jahr großzügig für Furlong aus, und die Äbtissin weist auf das Privileg hin, auf der Klosterschule aufgenommen zu werden. Furlong gibt nichts auf Gerüchte; Klatsch und Tratsch ist ihm zuwider. Doch auch an ihm ging nicht vorbei, dass die Leute behaupten, junge Frauen müssten zur Buße Schmutzflecken aus den Laken waschen. In dieser Wäscherei lassen alle betuchten Leute ihre Wäsche waschen. Und es wird erzählt, die Nonnen würde Babys ins Ausland verkaufen. 


Komplizenschaft und Mitschuld


‹Aber was, wenn es eins von unseren Mädchen wäre?›, fragte Furlong.

‹Genau das meine ich doch›, sagte sie und richtete sich wieder auf. ‹Es ist eben keins von unseren Mädchen.›

‹Ist es nicht gut, das Mrs Wilson ganz anders gedacht hat als du?› Furlong sah sie an. ‹Wohin hätte meine Mutter sich wenden sollen? Was wäre aus mir geworden?›

... ‹Die hat in ihrem großen Haus gehockt, mt ihrer Witwenrente und ihren Ländereien, ... War sie nicht eine der wenigen Frauen auf Erden, die tun und lassen können, was sie wollen?›


Furlong lässt das Mädchen keine Ruhe. Was ist dran an der Sache? Die, mit denen er darüber spricht, raten ihm, nicht weiter darüber nachzudenken. «Sie wissen, dass Sie aufpassen sollten, was Sie über die Vorgänge dort von sich geben.» Das Kloster sei mächtig, mit weitreichenden Armen. Furlong ist ein guter Christ und er denkt an seine Kindheit. Er muss aber auch an seine Familie denken, an seine Zukunft. Die eiserne Lady regiert das Land, immer mehr Fabriken und Werften werden geschlossen; die Arbeitslosigkeit steigt täglich. «Es war ein Dezember der Krähen.» Eine Gewissensentscheidung. Kleine Dinge wie diese erzählt von Komplizenschaft und Mitschuld, davon, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können - davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.


Eine literarische Kostbarkeit!

 

Während sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, eine ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?


Atmosphärisch dicht kommt diese Novelle der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens nahe. Ein Buch, das den Leser hineinzieht, das berührt. Das Konzentrat einer Geschichte, ein Konzentrat der Figuren, und genau darum ist diese Novelle so gut geschrieben, die alles auf den Punkt bringt. Die Verdichtung der Konstruktionen macht die Sache spannend. Ein hin und her der Gedanken von Furlong. Was wird tun? Eine literarische Kostbarkeit!


Magdalenen-Wäschereien

Der Hintergrund ist der den Skandal um die Magdalenen-Wäschereien. Nach dem Fund eines nicht gekennzeichneten Massengrabes auf dem ehemaligen Grundstück eines Nonnenordens in Dublin im Jahr 1993 kam der Stein ins Rollen. Die Magdalenenheime nahmen ab 1767 zunächst schwangere protestantische Mädchen auf (ursprünglich lediglich Prostituierte), später auch katholische. Sie sollten auf Weg Gottes gebracht werden. Die Einrichtungen erhielten vom Staat eine pro Kopf Bezahlung für den Unterhalt. Trotzdem mussten die Frauen schuften – es war eine Sklavenarbeit, denn sie wurden gefangengehalten. Meist wurde ein günstiger Wäscheservice angeboten, auch Krankenhäuser, Polizeistationen bis hin zum irischen Präsidenten profitierten davon. Mindestens 12 Monate sollte der Aufenthalt dauern – nach oben waren keine Grenzen gesetzt. Frauen, die dem Martyrium entkamen, hatten es in der Regel nur geschafft, weil sie fliehen konnten. Unter dem Deckmantel des Worts «Adoption» wurden die Babys an den Höchstbietenden verkauft! Wer nicht verhökert wurde, blieb im Heim, musste bereits früh Kinderarbeit leisten. Auch Impfstudien wurden an Müttern und Kindern durchgeführt. Aufgrund von Mangelernährung und schlechter Hygiene starben viele Kinder in jungen Jahren – ebenso ihre Mütter. Die katholische Kirche in Irland hatte enormen politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Die Menschen trauten sich nicht, schlecht über die Kirche, die Nonnen oder Priester zu sprechen. Nach der Enthüllung erklärte der Staat, man hätte das nicht gewusst; doch diverse Dokumente belegen das Gegenteil. 1996 erst wurde die letzte Magdalenenwäscherei geschlossen. Es gibt dazu einen düsteren Film: «Die unbarmherzigen Schwestern».


Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2017) erschienen. Das dritte Licht (2013) wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet, und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland und unterrichtet zurzeit an der Universität Cambridge.



Claire Keegan 
Kleine Dinge wie diese
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Novelle, Bildungsroman, Gesellschaftsroman, Irland, Magdalenen-Wäschereien, Katholische Kirche, Irische Literatur
Hardcover, 112 Seiten
Steidl Verlag



Zeitgenössische Literatur

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