Rezension
von Sabine Ibing
Justiz am Abgrund
Dr. Patrick Burow
Der erste Satz: Der Rechtsstaat ist nicht mehr funktionsfähig …
Der Autor beschreibt ein Justizsystem am Limit und hier gebe ich ihm völlig recht. Andererseits wirkt das Buch an manchen Stellen populistisch, weil der Autor sich absichtlich falsch ausdrückt und weil er bei aller Kritik nicht ansatzweise versucht eine Lösung zu bieten. Insgesamt ist es ein lesenswertes Buch, das uns zeigt, wie wichtig Wertschätzung von Arbeitgebern ist, hier der Staat, und wie fatal sich Einsparungen am Limit auswirken. Es ist erschütternd und macht wütend! Am meisten Unbehagen bereiten mir Wirtschaftsberatungsunternehmen, die angebliche Durchschnittswerte mit der Stoppuhr berechnen und ohne Punkt und Komma in Exceltabellen umwandeln, ohne von der Materie einen blassen Schimmer zu haben, mit dem Ergebnis, ihre Berechnungen als Fakt vorzulegen. Was für ein Armutszeugnis für den Arbeitgeber, der dies umsetzt und eine Katastrophe in Gang setzt.
Regelmäßig werden Richter zu Zusatzaufgaben herangezogen, zum Beispiel für die Ausbildung von Referendaren. ... Das ist eine zeitintensive Angelegenheit. Der Richter wird hierfür weder teilweise entlastet, noch erhält er eine Vergütung für die Mehrarbeit.
PEBB§Y hat alles im Griff
Halt!, werden Sie sagen, der bekommt ein monatliches Gehalt! Hier geht es um Pepsi, so spricht man es aus, PEBB§Y (Personalbedarfsberechnungssystem), die Kurzbezeichnung für ein System zur Personalbedarfsberechnung für die deutschen Justizbehörden, eine Formel welche die durchschnittliche und in Minuten dargestellte Bearbeitungszeit für einzelne Verfahrensarten vorschreibt. Menge x Basiszahl ÷ Jahresarbeitszeit (in Minuten) = Personalbedarf. Solche Berechnungen stammen aus der Industriearbeit. Natürlich kann ich einen Durchschnittswert dafür errechnen, wie lange ich brauche, einen Kotflügel anzuschrauben. Aber in der Justiz? Herr lass Hirn regnen, habe ich beim Lesen gedacht. PEBB§Y wird seit 2005 angewandt. Laut den Justizministerien seien alle denkbaren Fehltage wie Urlaub, Feiertage, Krankheit, Mutterschutz usw. statistisch eingearbeitet, so fand ich heraus. Die Realität sieht anders aus. Nun kann sich ja jeder vorstellen, dass ein geständiger Dieb, dazu drei versierte Aussagen von Zeugen, die den Tathergang beobachteten, ein dünnes Mäppchen und ein schnelles Verfahren bedeuten. Dagegen schafft ein leugnender Angeklagter, ein Berg Indizien, kombiniert mit wacklige Zeugen, die irgendwas im Dämmerlicht zu sehen glaubten, anliegend fünf Akten aus Auslesung von Handys und Funkauszellenauswertung, gekoppelt mit einem Rechtsanwalt, der das Verfahren mit Unterbrechungen und Beweisanträgen in die Länge zieht, sicher mehr Papier, das zu lesen ist, mehr Zeit für das Verfahren. Laut PEBB§Y sind alle Verfahren in gleicher Zeit zu schaffen. Ein Strafverfahren ist kein Kotflügel.Hauruck und weg
Mal ganz davon abgesehen, dass unsere Richter und Staatsanwälte meist in Büros aus Kaisers Zeiten arbeiten, die Einrichtung und Ausstattung aus dieser Zeit stammt, es an technischen Mitteln an allen Ecken fehlt, dass die Richter heute in vielen Bereichen selbst das Protokoll schreiben müssen, sie selbst durch das Gerichtsgebäude flitzen, um Akten zu kopieren, weil auch hier das Personal reduziert wurde, lockt heute auch das Gehalt nicht mehr. Zurück zu PEBB§Y, um eine Vorstellung zu bekommen. Ein Staatsanwalt hat 50 Minuten Zeit, die Anklageschrift für eine fahrlässige Tötung zu erstellen. Eine Jugendstrafsache soll in 137 Minuten verhandelt sein, ein Strafverfahren in 157 Minuten. Darin sind zwei oder auch vierzig Zeugen, zwei oder 200 Ordner Beweismaterial eingeschlossen, Zeugen, Angeklagte, Rechtsanwälte, die sich kurzfristig krankmelden, Zeugen die gar nicht auftauchen, das ganze Verfahren neu terminiert werden muss, neue Einladungen verschickt werden müssen. Dazu kommt, dass Richter häufig die Kammer wechseln. Ein neues Rechtsgebiet, in das man sich einarbeiten muss, die Rechtsanwälte der Gegenseite sind in der Regel Fachanwälte. Obendrauf erbt der Richter von seinem Vorgänger, der eventuell länger krank war, 150 Altfälle oder noch mehr. Die hat PEBB§Y laut Dr. Patrick Burow nicht vorgesehen. Die Altfälle muss man irgendwie mit den neuen Fällen in sein Zeitkonto einbinden.Nach 337 Verhandlungstagen und fast fünfjähriger Prozessdauer ging der Richter in Ruhestand. Das Verfahren wurde im Mai 2017 wegen des Verfahrenshindernisses der überlangen Verfahrensdauer eingestellt.
Konfliktverteidiung verzögert
Mancher Verteidiger legt es darauf an, den Prozess in die Länge zu ziehen. Der Autor zieht das Beispiel eines Neo-Nazi-Prozesses aus Koblenz heran, für den neun Verhandlungstage geplant waren. Was bedeutet das? Das Verfahren hatte dank der Verteidigung die Länge der gesetzlich erlaubten Verfahrensdauer überschritten und so durfte der Angeklagte mit einer Verfahrenseinstellung nach Hause gehen. So etwas nennt man Konfliktverteidiung. In diesem Fall über 400 Verfahrensanträge, über 240 Beweisanträge, über 50 Gegenvorstellungen. Wie gut, dass PEBB§Y so gut rechnen kann.Deshalb habe ich, wie alle anderen Staatsanwälte auch, großzügig von den gesetzlichen Einstellungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht. Offiziell wegen Geringfügigkeit, tatsächlich wegen Arbeitsüberlastung.
Eindeutige Fälle - die Gelackmeierten
Damit PEBB§Y irgendwie erfüllt werden kann, kommt es heute immer mehr zu »Deals« zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten, um Verfahren einzustellen oder durch einen Deal mit geringfügiger Strafe davonzukommen, geringe Strafe gegen Geständnis. Die Zeit zum Aktenstudium wird nur noch oberflächlich wahrgenommen, »schlampige Anklagen geschrieben«, und mit Sicherheit geht heute der ein oder andere Angeklagte unschuldig in den Knast. Viele Urteilsbegründungen werden vom OLG gerügt und zurückgegeben. Schwierige Fälle werden aufgrund von Zeitinvestition von Richtern schlicht eingestellt, dafür geständige Ladendiebe verurteilt, Verkehrssünder – geblitzt erwischt – verknackt. Und gewiefte Anwälte erzwingen Verfahrenseinstellungen, drohen schon im Vorfeld mit einer Konfliktverteidigung.Faktisch ist das Internet ein rechtsfreier Raum.
Wie lösen wir das Problems?
Die Strafprozessordnung rennt der Cyberkriminalität hinterher, ist nicht up to date in Delikten, Polizei und Staatsanwaltschaft fehlt es am passenden Personal, von moderner Technikausstattung ganz zu schweigen. Das Buch ist wichtig und richtig! Ich habe hier nur einige Punkte daraus angesprochen. Es sollte jedem Bundestagsabgeordneten gratis zugesandt werden! Was nützen uns ausgefeilte Gesetze, wenn Exekutive und Judikative am Limit arbeiten, nicht genügend Personal, Zeit und Technik zu Verfügung gestellt bekommen, um handlungsfähig zu sein? Ich selbst habe ein paar Jahre als Schöffin gearbeitet und beruflich mit Klienten oft mit Gerichten zu tun gehabt. Aus meinem Urteil heraus ist PEBB§Y der größte Mist, den der Staat seinem Rechtssystem antun konnte. Ich will aber nicht nur Lobeshymnen über das Buch ausschütten. Dr. Patrick Burow schreibt mir an manchen Stellen ein wenig populistisch. Schon im Klappentext können wir lesen, dass Mörder freigesprochen würden. Herr Staatsanwalt / Richter, Sie wissen doch ganz genau, was ein Freispruch bedeutet! Ein Mörder ist der, der verurteilt wurde. Sprechen Sie doch bitte in diesem Fall auch über Todesfälle, die nie zur Anklage kamen, weil die Ärzte Totenscheine zum natürlichen Tod ausstellen, ohne den Verstorbenen eingehend untersucht zu haben! Recht ist nicht gerecht – das Erste, was ein Jurastudent lernt. Auch wenn es ärgerlich ist, dass Verfahren aus genannten Gründen eingestellt werden, die möglicherweise ein anderes Urteil ergeben hätten, so sollte ein Jurist bei der richtigen Wortwahl bleiben. Es ist auch richtig, seine Wut zu publizieren, doch wo bleiben Ihre Lösungsansätze, Herr Dr. Burow? Das ganze System steckt in der Krise. Hier hätte ich von einem Juristen erwartet, dass er Vorschläge unterbreitet. Denn die Abschaffung von PEBB§Y und die Einstellung von Hundertschaften an Juristen ist nicht allein die Lösung. Insofern ist das Buch für mich richtig und wichtig, aber nur ein Buch bis zum Midpoint.Dr. Patrick Burow arbeitete zunächst als Staatsanwalt, später als Richter. Neben seiner Richtertätigkeit schreibt er Sachbücher und Krimis. Unter seinem Pseudonym Falk van Helsing veröffentlichte er Humorbücher.
Ein Roman zum Thema:
Eine Richterin geht in Ruhestand und blickt auf ihr Arbeitsleben zurück. Petra Morsbach hat sieben Jahre in Gerichten für diesen großartigen Roman "Justizpalast" recherchiert.
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