Rezension
von Sabine Ibing
In der Ferne
von Hernan Diaz
Der Anfang:
Das Loch, ein frischer Stern im Eis, war die einzige Unterbrechung der weißen Ebene, die mit dem weißen Himmel verfloss. Kein Wind, kein Leben, kein Geräusch.
Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance – doch für die gesamte Familie reicht das Geld nicht aus. So schickt der Vater die ältesten Jungen los, gibt ihnen Geld für die Schiffspassagen. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Noch ahnt Håkan nicht, dass er sein Leben lang unterwegs sein wird. Die Leute können seinen Namen nicht aussprechen, nennen ihn Hawk.
Das Licht erstickte sie. Sie wurden vom Weiß geknebelt, gestopgt, gewürgt. Durch Tränen und flatternde Lider konnen sie gerade noch die Ebene ausmachen – so glatt und blendend wie ein zugefrorener See. ... So weit das Auge sah, erstreckte sich in der Salzpfanne ein erhabenes Wabenmuster. ... Der Horizont war ein Strick.
Da Håkan mittellos ist, heuert ihn eine irische Goldgräberfamilie an, sie zu begleiten, für sie zu arbeiten. Ein hartes, dreckiges Leben folgt, bis eine Outlawgruppe die Familie überfällt, Hawk gefangen nimmt. Nun muss er der zahnlosen Anführerin der gefürchteten Outlaws zu sexuellen Diensten stehen. Irgendwann kann er diesem Martyrium entfliehen. Er trifft nur auf wenige gute Menschen, immer wieder kommt er in Situationen, in denen er um sein Leben kämpfen muss. Einmal hat er Glück, trifft auf einen Naturforscher, der sein Mentor wird, ihn mit zu einer Expedition in die Salzwüste nimmt. Er vermittelt Håkan Grundkenntnisse der Anatomie und der Heilkunde, sterile chirurgische Techniken, zeigt ihm, wie man Tiere jagt und häutet, Fleisch konserviert, eine einfache Unterkunft baut, welche Pflanzen man essen kann. Der stille junge Mann, der kaum Englisch spricht, wird menschenscheu. Sein Ziel ist immer noch New York, er will nach Linus suchen. Nach einem Gemetzel an Siedlern durch Outlaws der Mormonenbrüder, die verhindern wollen, dass sich «Ungläubige» in ihrem Gebiet Utah niederlassen, beschuldigt man ihn am Tod der Siedler – nun wird er steckbrieflich gesucht. Håkan zieht allein durch die Prärie, hält sich fernab von Menschen. Die Jahre ziehen dahin, er näht sich Kleidung aus den Fellen der Tiere, die er jagd, lebt als Waldschrat, in eins mit der Stille der Natur – ein Mantel aus Löwenfell und Reptilienhäuten lässt ihn furchterregend erscheinen. Der Hawk wird zur Legende im Kalifornien des Goldrausches: Riesenhaft soll er sein, stark, furchtlos und wild.
Zu hören war nur die dünne Krume – über die Jahre pulverisierter Stein, von den Elementen zermahlene Knochen, wie Geflüster über die Ebene wehende Asche –, die sich unter den Hufen weiter zerrieb. Bald wurde dieses Geräusch ein Teil der Stille. Håkan räusperte sich oft, um sich zu versichern, dass er nicht taub geworden war. Über dem harten, flachen Wüstenboden der grausame Himmel und die winzige Sonne – ein dichter scharfer Punkt.
Der Anti-Western wurde 2018 für den Pulitzer Prize und den PEN/Faulkner-Award nominiert, von der New York Times gefeiert, in zwölf Sprachen übersetzt. Es ist ein berührendes Buch, ein schräger Roman, der auktoriale Erzähler entblättert uns eine bittersüße Prärie-Saga voll Leid und Entbehrung. Die Geschichte von einem, der auszog das Fürchten zu lernen, eine epische Reise, ein Drama. Die Besiedlung Kaliforniens wird in aller Grausamkeit geschildert, gespickt mit brillanten Naturbildern. Aber auch die Natur wird entzaubert, stechende Sonne, unendlicher Staub, Wüsten, schroffen Felsformationen, Canyons, karge Landschaften, in denen man kaum überleben kann, «allumfassende Monotonie», «unerreichbaren Horizonts». Sprachlich ausgefeilt, eine spannende Geschichte mit einem feinen Ende. Epoche der Besiedlung Amerikas wird hautnah eingefangen. Empfehlung!
Hernan Diaz wurde 1973 in Argentinien geboren, wuchs in Schweden auf, studierte in Buenos Aires und London und lebt heute in New York. «In der Ferne», sein erster Roman, war 2018 für den Pulitzer Preis und den PEN/Faulkner Award nominiert. Seine Romane wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
In der Ferne
Originaltitel: The Distance, 2017
Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Meyer
Western, Historischer Roman, Abenteuerroman, Kalifornien, Goldrausch, Drama, amerikanische Literatur
Hanser Verlag, 2021
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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