Rezension
von Sabine Ibing
Ich, Ellyn
von Nell Leyshon
Erster Satz:
fangen wir an
Anfänglich hatte ich Schwierigkeiten, in die Sprache einzutauchen, erst Mitte des Romans war ich richtig drin und das Buch konnte mich begeistern. 1573, England: Ellyn wächst auf einem Bauernhof auf. Die Mutter hat gerade ein Kind bekommen, der Vater kann durch eine Verletzung nicht mehr arbeiten, fühlt sich nutzlos. Der Bruder, Thimas, und Ellyn leisten die meiste Arbeit. Thimas ist ein jähzorniger, brutaler Zeitgenosse unter dem seine Schwester zu leiden hat. Das Mädchen ist für die Kuh zuständig und muss auch sonst fest zupacken. Die Familie lebt in Armut und Schmutz, niemand kann lesen und schreiben. Doch Ellyn lebt für das Singen, das sie befreit, und jeder der sie hört, ist fasziniert.
Außerhalb vom Hof wartet eine Welt, die zu entdecken ist
da stehn zwei betten und sie sind nicht wie irgendwas was ich schon mal gesehen hätte sie haben beine und darunter ist es leer und sie haben holzrahmen außenrum und sie haben wolldecke und kann kein stroh sehn kann kein heu sehn.
Das harte Arbeiten hat Ellyns Muskeln gestählt und ihre Physiognomie, ihr herber Gesichtsausdruck, erinnert eher an einen Jungen. Im gläubigen England hält ihre Familie nicht viel von Religion, Kirchenbesuche und Gebete kennt das Mädchen nicht. Als sie in die Stadt geschickt wird, um ein Tier zu verkaufen, betritt sie das erste Mal eine Kirche und beginnt zu singen. Man wird auf sie aufmerksam, ist begeistert von ihrer Stimme, und sie wird für einen Jungen gehalten. Ellyn erhält die Möglichkeit, in die Schule aufgenommen zu werden, die einen hervorragenden Knabenchor hat. Sie ist schlau genug, sich nicht als Mädchen zu outen. Sie zieht die Kleidung ihres Bruders an und schneidet sich die Haare, haut von zu Hause ab.
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
john sagt er seine stimme lauter und in dem moment fällt mir wieder ein dass john ellyn ist und ellyn john ist und ich dreh mich um als wäre ich in tagtraum gewesen und ihn beim ersten mal nicht gehört und ich sag ja ich bin john
Als sie in der Schule aufgenommen wird, ist sie überwältigt von dem Zimmer, das sie sich mit einem Jungen teilt, von dem Bett und sie muss sich das erste Mal im Leben waschen. Das Essen ist gut und reichlich; es gibt Fleisch; eben mehr als Brot und dünne Suppe, die sie von zu Hause kennt. Weder spricht sie Latein, noch kann sie lesen und schreiben;, aber auch das spielt keine Rolle bei dieser Stimme. So erhält sie zunächst Einzelunterricht, bevor sie in die Klasse eintreten darf. Nun fehlt aber immer noch die Einwilligung der Eltern. Sie kann die Mutter überreden, zu unterschreiben, weil die Familie für den Verlust der Arbeitskraft eine gute Summe Geld erhält. Die Mutter hält dicht – es ist eine Ehre für sie, dass ihr Sohn John in die Schule eintreten darf, sagt sie beim Daumendruck. Später wird Ellyn sogar als eine der drei Chorknaben ausgewählt, die nach London reisen dürfen, um für Königin Elisabeth I zu singen.
Sprachlich dann doch ein Leseerlebnis
Aber jetzt weiß ich dass jeden tag dieselbe sonne kommt und ich weiß jetzt dass es immer derselbe mond ist
Ich verlier alle meine geheimnisse
Ein historischer Roman, der berührt, der in seiner Sprache so einfach gestaltet ist, wie die Bildung dieses Mädchens. Ganz langsam verändert sich die Sprache von Ellyn, mit ihrer Bildung, mit ihrem Blick auf die Welt. Und das ist ausgefeilt gestaltet. Die Kleinschreibung und die fehlende Interpunktion waren für mich nicht störend, aber die einfache Ausdrucksweise – die ja passend ist – hat es mir anfangs ein wenig schwer gemacht. Doch es lohnt sich, sich darauf einzulassen! Denn wirklich fantastisch ist es, zu verfolgen, wie dieses Mädchen wächst. Das sprachlich in kleinen Schritten so elegant zu steigern ist gelungen; Hut ab vor der Autorin. Zunächst rundet sich die Grammatik, der sprachliche Ausdruck, die ersten Satzzeichen sind verstreut eingefügt, hier und da ein Großbuchstabe. Das macht den Roman zum Leseerlebnis, mal ganz abgesehen vom Inhalt. Auch hier kann die Erzählung punkten. Das Mädchen, das nie den kargen Bauernhof verließ, landet plötzlich in einer Eliteschule. Staunend und überwältigt nimmt sie die neue Welt wahr. Doch nicht in Ehrfurcht und Dankbarkeit – sondern sie saugt das Neue auf wie ein Schwamm und integriert sich, arrangiert sich, nimmt die Herausforderung als Bereicherung an. Ein Mädchen darf lernen, lesen, schreiben. Welches Mädchen kann das schon!
Nell Leyshons Romane, Theaterstücke und Hörspiele erhielten bereits zahlreiche Auszeichnungen. Im Eisele Verlag erschien der Roman Die Farbe von Milch, für den sie neben James Salter und Zeruya Shalev für den Prix Femina nominiert war. Es folgte Der Wald, „eine herzzerreißende Liebeserklärung an Söhne und ihre Mütter“ (Brigitte). Mit Ich, Ellyn legt Nell Leyshon einen Roman vor, in dem ein junges Mädchen seine von Geburt an benachteiligte Stellung nicht hinnimmt und sich mit aller Macht seinen Platz im Leben erkämpfen will. Nell Leyshon wurde in Glastonbury geboren und lebt heute in Dorset.
Ich, Ellyn
Originaltitel: The Singing School
Aus dem Englischen übersetzt von Wibke Kuhn
Historischer Roman, Englische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 224 Seiten
Eisele Verlag
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