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Happiness Falls von Angie Kim - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Happiness Falls 


von Angie Kim


Der Anfang: 
Wir haben nicht gleich die Polizei benachrichtigt. Später habe ich mir deswegen Vorwürfe gemacht und überlegt, ob alles anders ausgegangen wäre, wenn ich die Sache sofort ernst genommen hätte, wenn ich nicht darauf beharrt hätte, dass mein Vater gar nicht wirklich verschwunden war, son- dern sich nur verspätete, dass er wahrscheinlich noch immer im Wald herumlief, um nach Eugene zu suchen.


Mias Vater und ihr 14-jähriger Bruder Eugene sind auf einer Wanderung im direkten Wald in der Umgebung. Eugene, der mit dem Angelman-Syndrom und Autismus belastet ist, kehrt völlig verstört allein nach Hause zurück. Er ist stumm und kann sich nicht mitteilen, wodurch er ins Zentrum der Ermittlungen um den verschwundenen Vater gerät. Die 20-jährige Mia beginnt Nachforschungen anzustellen – und kommt einer Reihe von Geheimnissen auf die Spur, die die bürgerliche Fassade der Familie bröckeln lassen, ein sensibel erzählter Familienroman über die Frage, wie gut wir einander je kennen können.

Wenn ich irgendetwas in unserer Familie als ‹typisch› bezeichne, kann ich nur den Kopf schütteln. Ich denke dabei nicht einmal an die typischen Dinge wie Johns und meine Zwillingsschwester, unsere Mischlingsfamilie (koreanisch und weiß), die unüblichen elterlichen Geschlechterrollen (berufstätige Mutter, Hausmann) oder die unterschiedlichen Nachnamen (Parson für Dad + Park für Mom = zusammengewürfelt zu Parkson für uns Kinder) ....Wo wir zweifellos atypisch sind, ist die Doppeldiagnose meines kleinen Bruders Eugene: Autismus und eine seltene genetische Störung namens mosaisches Angelman-Syndrom (AS), was bedeutet, dass er nicht sprechen kann, motorische Schwierigkeiten hat und - und das ist es, was viele Menschen fasziniert, die noch nie von AS gehört haben - ein ungewöhnlich fröhliches Verhalten mit häufigem Lächeln und Lachen hat.

Gab es einen Unfall? 

Mutter, Dr. Hannah Park, ist eine koreanisch-amerikanische Linguistin und Vater Adam Hausmann, da Eugene eine intensive Betreuung benötigt. Mia und John sind Zwillinge. Zwei Dinge, die die Familie belasten, ein gehandicaptes Kind, dass viel Aufmerksamkeit braucht und die Mischlingsehe, die von außen scharf beäugt wird. Der vermisste Vater wird nun von der Polizeistaffel gesucht, ist aber nicht aufzufinden; nur sein Rucksack wird aus dem Fluss gefischt. Gab es einen Unfall? Ist der Vater in den Fluss gefallen und ertrunken? Oder ist er schlicht freiwillig verschwunden … denn er hatte einige Geheimnisse, die die Familie schockieren.


Ausufernd erzählt

Während ihrer Recherche um ihren Vater findet Mia heraus, dass er sich mit dem «Glücksquotienten» beschäftigte. Wann ist ein Mensch glücklich? – bzw. für jeden bedeutet Glück etwas anderes. Dazu hat er seine Familie genau studiert. Hier geht das Buch in eine philosophische Richtung. Andererseits nimmt es Anteil mit der Familiendynamik in einer Familie mit gehandicaptem Kind – was oft mehr kann, als es den Anschein hat. Mia ist eine ziemlich ausufernde Erzählerin – das mag man oder mag es nicht. Die Geschichte entwickelt sich Stück für Stück dahin, dass man Eugene bis dato falsch eingeschätzt hat. Er ist nicht wie angenommen geistig gehandicapt, es fehlt ihm lediglich die Möglichkeit der Kommunikation. Ist die sprachliche Gestaltungsmöglichkeit die einzige, die es Menschen ermöglicht, sich auszutauschen? Die Familie ist beschämt, als sie herausfindet, dass so viel in Eugene steckt. Der Roman ist mit viel Empathie geschrieben, und Mias Gedanken über die Welt sind weitreichend bis ausufernd. Grundsätzlich fand ich das Buch interessant; aber mir persönlich ist es zu auserzählt. Wer allerdings überflutende Gedankengänge, die vom Hundertsten ins Tausendste kommen, mag, der wird sich mit dem Familienroman wohlfühlen. 


Angie Kim zog als Teenager von Seoul, Südkorea, in die Vororte von Baltimore. Nach ihrem Abschluss an der Interlochen Arts Academy studierte sie Philosophie an der Stanford University und besuchte die Harvard Law School, wo sie Redakteurin der Harvard Law Review war. Ihr Debütroman Miracle Creek wurde mit dem Edgar Award, dem ITW Thriller Award, dem Strand Critics› Award und dem Pinckley Prize ausgezeichnet und von Time, The Washington Post, Kirkus und der Today Show zu einem der besten Bücher des Jahres gekürt. Angie ist eine der ersten «10 Storytellers to Watch» des Variety Magazine und hat bereits für die New York Times Book Review, die Washington Post, Vogue, Glamour und zahlreiche Literaturzeitschriften geschrieben. Sie lebt mit ihrer Familie in Nord-Virginia. Happiness Falls ist ihr zweiter Roman.




Angie Kim
Happiness Falls
Originaltitel: ‎Happiness Falls, 2025
Aus dem Englischen übersetzt von Wibke Kuhn
Angelman-Syndrom, Autismus, Familienroman, Kinder- und Jugendroman
Hardcover, 544 Seiten
hanserblau, 2025



Miracle Creek von Angie Kim

Ein ungewöhnlicher Thriller, der weltweit hochgelobt wurde – dem ich mich anschließe. Ein Gerichtsthriller – nicht wirklich – ein Psychothriller – ganz bestimmt – ein Whodunnit – auch das – ein sozialkritischer Roman – ebenfalls. Genau diese Mischung macht diesen Roman interessant und seine enorm authentischen Charaktere, in die die Autorin stark hineindringt. Alles beginnt mit einem Unglück. Pak Yoo, ein Einwanderer aus Korea, der zertifizierter Techniker für Überdruckbehandlung ist, hat sich selbstständig gemacht mit seinem «Miracle Submarine», einer Druckkammer - die hyperbare Sauerstofftherapie soll therapiebegleitend bei div. Krankheiten lindernd sein. An diesem Tag im August passiert ein Unglück: Eine Explosion löst ein Feuer aus, bei dem ein autistischer Junge stirbt, sowie eine Mutter von fünf Kindern, andere Personen sind verletzt. Jemand hat außerhalb der Scheune, ein Feuer gelegt, direkt unter den Sauerstoffverbindungen. Angeklagt ist Elisabeth. Doch war sie’s wirklich? Eine sehr feine Perspektive macht diesen Roman zum Lesegenuss.

Weiter zur Rezension:   Miracle Creek von Angie Kim


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman

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