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Miracle Creek von Angie Kim - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Miracle Creek 


von Angie Kim


Der Anfang: Mein Mann bat mich zu lügen. Keine große Lüge. Für ihn war es wahrscheinlich noch nicht einmal eine richtige Lüge, und für mich am Anfang auch nicht.

Ein ungewöhnlicher Thriller, der weltweit hochgelobt wurde – dem ich mich anschließe. Ein Gerichtsthriller – nicht wirklich – ein Psychothriller – ganz bestimmt – ein Whodunnit – auch das – ein sozialkritischer Roman – ebenfalls. Genau diese Mischung macht diesen Roman interessant und seine enorm authentischen Charaktere, in die die Autorin stark hineindringt.

Das Unglück mit dem Miracle Submarine

Alles beginnt mit einem Unglück. Pak Yoo, ein Einwanderer aus Korea, der zertifizierter Techniker für Überdruckbehandlung ist, hat sich selbstständig gemacht in dem kleinen Ort Miracle Creek, Nähe Baltimore in Virginia. Sein «Miracle Submarine», eine Druckkammer, steht in einer Scheune. Die  hyperbare Sauerstofftherapie soll therapiebegleitend bei div. Krankheiten lindernd sein. Diese Therapie ist aus der Tauchmedizin entwickelt worden und ist übrigens medizinisch anerkannt, ist nachweislich bei diabetischem Fußsyndrom, akuten Hörstörungen und in der Krebstherapie wirksam. In diesem Fall treffen sich bei Pak Yoo Mütter mit ihren behinderten Kindern, sowie der Arzt Matt Thomson, der familiär hier hineingedrängt wurde, um sein schwächelnden Sperma in Bewegung zu bringen – und weil er nicht an den Erfolg glaubt, fiebert er dem Ende der Therapie entgegen. An diesem Tag im August passiert ein Unglück: Eine Explosion löst ein Feuer aus, bei dem ein autistischer Junge stirbt, sowie eine Mutter von fünf Kindern, andere Personen sind verletzt. Jemand hat außerhalb der Scheune, ein Feuer gelegt, direkt unter den Sauerstoffverbindungen.

Der Leser weiß mehr - was davon wird ans Tageslicht kommen?

Gute und schlechte Dinge – jede Freundschaft, jede Liebe, jeder Unfall, jede Krankheit – waren das Ergebnis der Verschwörung Hunderter Kleinigkeiten, die jede für sich genommen vollkommen belanglos waren.

Angeklagt ist Elizabeth – doch bereits an dieser Stelle ist dem Leser bewusst, dass Familie Yoo vor der Polizei nicht ganz die Wahrheit ausgesagt hat. Die Gründe sind nachvollziehbar und ändern auch nichts an der Möglichkeit dessen, was der Staatsanwalt vorträgt. Der Zeuge Matt Thomson schildert, was an diesem Tag geschah und warum genau diese Sitzung völlig anders war als die vorigen. Die Schuld von Elisabeth ist eindeutig – sie war überfordert mit ihrem behinderten Kind, wollte befreit sein. Oder hat auch Matt einiges verschwiegen? Die Rechtsanwältin nimmt ihn auseinander, der Leser weiß noch viel mehr. Jedes Kapitel trägt die Überschrift eines Protagonisten. Im Prinzip sitzt der Leser im Zuschauerraum und verfolgt die Verhandlung. Allerdings mit Bonbons versorgt. Der Leser ist dem hohen Gericht mit Wissen im Vorteil. Denn die Autorin benutzt den Innendialog. Auf jede Frage an die Zeugen gehen diesen Gedanken durch den Kopf. Erinnerungen an den Tag, die Zeit davor und wir lesen, was sie letztendlich aussagen – vertuschen, lügen, verschweigen. Der Leser kennt die Geheimnisse und Halbwahrheiten, die inneren Ängste der Protagonisten, ihre Scham, ihre Unzulänglichkeiten, Schuldgefühle. Die Frage ist, was von diesen Dingen wird herauskommen und was bleibt ein Geheimnis zwischen Protagonist und Leser*in?  Niemand ist gut und niemand ist schlecht. Alle haben persönliche Gründe. In jedem Kapitel tut sich ein neues Geheimnis auf. Tief geht die Autorin in ihre Protagonisten hinein. Glaubwürdig! Und genau das macht dieses Buch zu einem guten Roman. Wer hat’s getan? Man wird sich fast bis zur letzten Seite gedulden müssen, miträtseln … Schuld, Mitschuld, Feigheit, Demut, Gier, Charakterschwäche – eine Beschreibung des Menschlichen.

Überforderung und Verzicht auf ein eigenes Leben

Mir fällt das wirklich schwer, hier zu sein. Mein Mann ist das überhaupt nicht gewöhnt, sich um die Kinder zu kümmern›, und die andere sagte: ‹Bei mir genau das Gleiche. Hoffentlich ist der Prozess schnell vorbei.› … Sie überlegte, ob sie ein schlechter Mensch war, weil sie sich so maßlos über diese Auszeit von ihrem eigentlichen Leben freute.

Es sind immer die Frauen, deren Leben vom behinderten Kind bestimmt wird. Elizabeth ist wochentags mit ihrem autistischen Sohn von einer Therapie zur nächsten unterwegs, immer die sorgsam vorbereiteten Leckereien dabei. Henry leidet zusätzlich an diversen Nahrungsmittelunverträglichkeiten und obendrauf hat er bestimmte Vorlieben. Es ist nicht einfach, an die allergiefreien Nahrungsmittel heranzukommen. So viele Therapien! Sollen sie Henry helfen – oder die Eltern, vom Makel des behinderten Kinds befreien? Irgendetwas muss doch mal helfen! Seit Henry auf der Welt ist, hat Elisabeth keine Freunde mehr. Keine Zeit dazu, Henry kreist 24 Stunden um sie herum. Überforderung und Verzicht auf ein eigenes Leben. Mütter, die manchmal darüber nachdenken, wie es wäre, kein behindertes Kind mehr zu haben – und sofort taucht das Schamgefühl auf. Väter, die sich herausziehen oder Frau und Kind verlassen. Behinderungen zu akzeptieren – ein Thema dieses Romans – im gleichen Zug das patriarchalische Verhalten der Männer in solchen Familien.

Einwandererschicksal

Die amerikanisch-koreanische Autorin erzählt von der Familie Yoo, die in die USA einwanderte, damit es Meh-hee-yah, besser gehe, als den Eltern. Zuerst geht Young Yoo, Paks Frau, mit Kind. Sie wird von einer koreanischen Familie in Baltimore aufgenommen, für die sie in Sklavenarbeit einen Laden führt, dort im Hinterzimmer nächtigt. Meh-hee-yah heißt nun Mary, muss englisch sprechen, was ihr so schwer über die Lippen geht, ihr Schulgeld wird von der Gastfamilie bezahlt. Sie wird Schlitzauge gerufen, fühlt sich unwohl an der Schule, beschwert sich, denn der Mathestoff der 4. Klasse der alten Schule in Korea entspricht in den USA dem der 8. Klasse. Sie verstummt, vermisst den Vater, die Zärtlichkeiten der Mutter, die sie kaum mehr sieht. Pak schuftet in Korea, um Geld zu verdienen, reist drei Jahre später nach. Mary wird wieder aus dem nun vertrauten Leben gerissen, als Pak sein «Miracle Submarine» in dem keinen Ort Miracle Creek aufbaut. Ost-Mentalität trifft auf West-Mentalität – Rassismus und patriarchalische Familienstrukturen aus dem Ursprungsland funktionieren, aber im fremden Land nicht immer, lösen sich zur nächsten Generation weiter auf.

Geschickt in der Perspektive

Angie Kim kann schreiben! Hervorragend holt sie die Charaktere ihrer Protagonisten ans Licht. Und sie klingen authentisch. Bilder gehen im Kopf auf, eine Geschichte, die packt. Die Autorin, die als Kind aus Korea in die USA emigrierte und in Baltimore aufwuchs, Jura studierte, weiß, wovon sie schreibt – und einer ihrer Söhne war jahrelang in Sauerstofftherapie. Sie klagt nie an, sie zeigt auf, was es für eine Frau bedeutet, für ein behindertes Kind da zu sein, wie sich Männer herausziehen und wie schwer es ist, sich als Einwanderer in einem fremden Land zurechtzufinden. Menschen meinen es gut mit ihren Kindern. – Sehen das die Kinder auch so? Schuld, Mitschuld, Scham und Sühne, an sich ein großes Thema – doch hier packt die Autorin ganz selbstverständlich zwei weitere Themen dazu, ohne dass die Geschichte überladen wird. Sehr geschickt in der Perspektive ist die Gerichtsbefragung, in der  die Gedankenwelt der Zeugen eingeflochten ist, was den Roman absolut spannend macht – bis zur letzten Seite. Das Buch wurde al «Best Book of the Year» bezeichnet von: Time, The Washington Post, Kirkus, Real Simple, Library Journal, The Today Show, Amazon, and Hudson Booksellers, and a Good Morning America Hot Summer Read.


Angie Kim wurde in Südkorea geboren und kam als Preteen (9-12) nach Baltimore, besuchte die Stanford University und die Harvard Law School, wo sie Redakteurin der Harvard Law Review war. Als ehemalige Prozessanwältin lebt sie heute mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Nordvirginia und arbeitet an ihrem nächsten Roman. Einer ihrer Söhne war jahrelang in Sauerstofftherapie. Miracle Creek ist ihr erster Roman. –

Angie Kim
Miracle Creek
Original: Miracle Creek, 2019
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger
Thriller, Psychothriller, Gerichtsthriller
Fester Einband, 512 Seiten
hanserblau Verlag, 2020

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