Rezension
von Sabine Ibing
Ein Leben lang
von Christoph Poschenrieder
Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe, und er ist er, oder ‹unser Freund›. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.
Ein ungewöhnlicher zeitgenössischer Kriminalroman, der sich mit den Folgen eines Verbrechens befasst. Sie kennen sich seit dem Kindergarten, sind beste Freunde und beginnen als Erwachsene gerade ihre eigenen Wege zu gehen, als plötzlich einer von ihnen des Mordes angeklagt wird. Er soll seinen Erbonkel aus Habgier erschlagen haben. Zig wütende Schläge mit dem Baseballschläger auf den Kopf des Opfers. Eine Beziehungstat – so etwas macht kein Einbrecher, stellt die Polizei gleich klar. Wertvolle Stücke in der Wohnung wurden auch nicht gestohlen. Er, der nie beim Namen genannt wird, den alle als hilfsbereit und besonnen kennen, einer der Gewalt verabscheut und vermittelt, der kann kein Mörder sein! Niemals einer von ihnen! Und weil die Staatsanwaltschaft lediglich diverse Indizien zu einem Gesamtpaket zusammenführt und Anklage erhebt, versuchen die Freunde alles, um die Indizien zu widerlegen, denn er kann, er darf kein Mörder sein.
Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?
Doch als 15 Jahre nach dem Urteil eine Journalistin sich des Falls wieder annimmt, stellt sich die Frage der Loyalität wieder neu für die Freunde. Die Publizistin wühlt sich durch sich die Gerichtsakten und Presseberichte des zweijährigen Prozesses, führt Interviews mit der Clique. Die Freunde nehmen Stellung zu den damaligen Geschehnissen. In einem schier endlosen Indizienprozess wurde das Unterste zuoberst gekehrt. In nüchternen Vignetten montiert Christoph Poschenrieder die Freunde, den Anwalt, die Polizei, die Anklage, den Angeklagten; Gesprächsprotokolle, Notizen, Memos. Antworten – die Fragen der Journalistin sind nicht existent, und so vergisst der Lesende irgendwann, dass dies eigentlich eine Ansammlung von Interviews ist. Wer ist ER? Was ist damals geschehen. Der Erbonkel, dem das große Einkaufszentrum gehörte, war ein garstiger Alter, der ihn, den Namenlosen, traktierte. Die Presse beschrieb ihn damals auf völlig andere Weise als der Freundeskreis. Wo liegt die Wahrheit? Fakten und Meinungen, Indizien. Er sitzt immer noch im Knast – doch trotz aller Loyalität hat niemand aus der Clique den Kontakt zu ihm aufrechterhalten.
Interessanter Ausdruck: Ein Wort verlieren, nicht? Verlieren, wie einen Hausschlüssel. Vielleicht. Man kann Worte ja auch finden, nach ihnen suchen, ich glaube sogar, um sie ringen, warum sie dann nicht auch verlieren?
Beweise? Indizien sind keine Beweise. Doch eine lückenlose Kette von Indizien können ein Gesamtbild ergeben. Was ist gerecht? Kann man jemanden ohne Beweise anklagen und verurteilen, einen kaltblütigen Mord begangen zu haben? Dem Hörensagen nach hatte der Onkel vor, den Neffen zu enterben, weil der sein Studium abgebrochen hatte. Die Indizien werden Stück für Stück in den Plot eingefügt. Wie bewertet das neutrale der Lesende? Die Freunde Sabine, Benjamin, Sebastian, Till und Emilia sind fassungslos. Liegen sie einem gruppendynamischer Zwang auf, sich nicht vorstellen zu können, dass einer von ihnen zu solch einer Tat fähig ist? Jeder der Protagonist:innen trägt eine eigene Stimme, einen eigenen Charakter. Gesprächsprotokolle – und das ist virtuos gestaltet. Sabine, die Hinterfragende, Emilia, die Fürsorgliche, Ausgleichende; Sebastian und Till, die besten Freunde, loyal bis in den Tod; Benjamin, der abwartende, nüchterne Typ, der Jurist, der Erklärende; der Anwalt, eine selbstgefällige Type, der sich hätte fachlich mehr ins Zeug legen können. Und ER, der offenlässt, ob er es war oder nicht, weil es jetzt sowieso egal ist.
Nicht falsch verstehen: Ich hielt und halte ihn für unschuldig. Aber – es ist kompliziert. Mehr als das. Und jedes Jahr wird es komplizierter. Mir graut vor dem Tag, an dem er herauskommt. Warum? Sage ich Ihnen später. Vielleicht.
Mir hat dieser Kriminalroman gefallen, aber nicht völlig überzeugt. Interessant ist der Roman in seiner Struktur auf jeden Fall. Die Figuren hätten ein wenig tiefer gezeichnet sein können, wirken an vielen Stellen oberflächlich. Wenn sie ihn als Freund bezeichnen, noch heute – warum hat niemand mit ihm Kontakt gehalten? Eine Frage der Brüchigkeit, die nie beantwortet wird. Absicht? Die Idee zu diesem Roman entstand zu einem realen Fall: 2006 wurde die Millionärin Charlotte Böhringer erschlagen. Der Neffen der Toten soll sie aus Habgier getötet haben. 2008 wurde er wegen Mordes in einem langen Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Freundeskreis versucht seither zu beweisen, dass der Verurteilte unschuldig ist.
Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt ›Die Welt ist im Kopf‹ wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit ›Das Sandkorn‹ war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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