Rezension
von Sabine Ibing
Die Regeln des Spiels
von Colson Whitehead
Der rechte Weg — das bezeichnete eine Philosophie und ein Territorium, ein Viertel mit Grenzen und ortsüblichen Sitten. Manchmal, wenn er auf dem Weg zur Arbeit die Seventh Avenue überquerte, murmelte er die Worte vor sich hin wie ein Säufer, der versucht, auf dem Heimweg von den Bars nicht über den Bürgersteig zu torkeln.
Die wilden Siebziger im schwarzen Viertel Harlem, New York: Ray Carney will von krummen Geschäften nichts mehr wissen, hat die Hehlerei aufgegeben, um als ehrlicher Möbelhausbesitzer auf den rechten Weg zurückzugelangen. Stressless-Sessel, Schlafsofas, Lampen und vieles mehr gehören in sein Sortiment und der Laden brummt. Seine Frau führt ein Reisebüro, die Kinder besuchen eine gute Schule. Mit seinen Beziehungen kann Ray alles besorgen – doch dieses Mal möchte die Tochter zum Konzert der Jackson Five, und nirgendwo sind Karten aufzutreiben. Ray muss sein altes Netzwerk aktivieren; er klappert alles ab. Nirgendwo sind Tickets zu erhalten – bis er an den Polizisten Munson kommt, der seine Finger überall im Spiel hat, der ihm helfen will. Gegen einen Gefallen: Heiße Ware zu verticken. Die Juwelen stammen aus einem spektakulären Raubüberfall, erfährt Carney beim Juwelier, kein Hehler nimmt sie an. Zurück zum Cop mit dem Schmuck, der von ihm nun einen anderen Gefallen für die Tickets einfordert. Nichts besonders: Er soll ihn zu einer Adresse fahren, lediglich begleiten. Und damit kommt ein Stein ins Rollen, der sich als gefährlicher Felsbrocken entpuppt …
Die Geschworenen brauchten anderthalb Stunden, um zu beraten, und zwanzig Minuten, um einhundertsechsundfünfzig Mal ‹Nicht schuldig« vorzulesen.› ‹Die Undercover-Beamten haben ihre Geschichten frei erfunden.› Eine demütigende Wende für Frank Hogan, den Staatsanwalt von Manhattan. Wie weit ist es gekommen, wenn man nicht mal mehr einen Haufen Ne… mit getürkten Beweisen verknacken kann? ‹Warum sollten die Cops lügen?›, sagte John. ‹Warum lügt überhaupt jemand?› Manche Dinge muss ein Junge selbst herausfinden.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Ray Carney ist in Teil zwei eine Randfigur, im dritten wieder der Hauptprotagonist. Pepper, auch ein ehemaliger Gangster, probiert im Filmgewerbe ehrbar als Sicherheitsbeauftragter Fuß zu fassen. «Peppers Persönlichkeit ließ sich nicht verbergen, sie entsprach dem Dezember, wenn die Tage immer kürzer werden: kalt und erbarmungslos.» Der pyromanisch veranlagte Aktfotograf Zippo will in der Blaxploitation-Szene ganz groß rauskommen. Die Hauptdarstellerin Lucinda Cole, die Exgeliebte eines bekannten Ganoven, macht dauernd Ärger, und als sie plötzlich untertaucht, erhält Pepper den Auftrag, die wichtige Diva zum Set zurückzubringen. Der dritte Teil führt Ray und Pepper zusammen. Als in Harlem ganze Wohnblocks in Flammen aufgehen, beauftragt Ray Pepper, den Auftraggeber zu finden, der ein Haus abfackeln lies, in dem ein kleiner Junge zu Tode kam.
Vergangene Woche hatte die Stadt ihren neuen Kriminalitätsbericht veröffentlicht, für die Zeitungen ein gefundenes Fressen: MORD GMBH, VERBRECHENSSCHOCK, VERFAULTER APFEL. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich die Anzahl der Tötungsdelikte vervierfacht, Vergewaltigungen, Autodiebstähle und Einbrüche waren auf einem historischen Höchststand, man konnte keinen Block weit gehen, ohne dass sich Rudel von messerschwingenden Straßenräubern auf einen stürzten, und so weiter. Die Statistiken waren in Listen mit Spiegelstrichen gesetzt, mit billiger Druckerschwärze, die einem die Hände befleckte wie Blut.
Die schwarze Community in Harlem in den Siebzigern wird hier in allen Facetten dargestellt, der Verfall New Yorks. Missmanagement in der Stadt- und Bauplanung, Korruption, Bandenkriege, Immobilienhaie, Arbeitslosigkeit, eine schwächelnde Wirtschaft, Kriminalität an jeder Straßenecke prägen das eine Bild von Harlem, swingendes, lebenslustiges Harlem ist der Gegenpol. Gangster, Dealer, Zuhälter, korrupte Bullen, Stadtangestellte und Politiker und ihre dumpfbackigen Knochenbrecher haben das Sagen, stopfen sich die Taschen voll; Schmiergelder und Provisionen stehen an der Tagesordnung. Straßenzüge werden korrupt dem Verfall preisgegeben. «In einer derart miesen, dummen und grausamen Welt ist jeder Tag, an dem die Weißen einen nicht umgebracht haben, ein Gewinn.» Bauspekulation; staatliche Unterstützung für Neubauten, für Sozialwohnungen, auf den Straßen Polizeigewalt, Rassismus, Reduzierung der Feuerwehrkräfte – Politik und Bauträger geben sich die Hand; Entmietung mit fiesen Tricks und Warmsanierung, Versicherungsbetrug, ein tägliches Bild.
Da haben wir uns vor ein paar Jahren um ein paar Mietshäuser gekümmert. Abwesender Hausbesitzer, die Stadt kann ihn nicht ausfindig machen. Der Bauinspektor geht rein, um es sich mal anzusehen, und kracht durch den Boden, so kaputt ist die Bude. Irgendjemand wollte sie ausgebrannt haben. Wir kümmern uns drum. Die Stadt New York beschlagnahmt das Grundstück, übergibt es an diese Standortinitiative, die das ganze Stadterneuerungsgeld abgreift — ihr wisst schon, helft uns, das Ghetto zu sanieren, und wir stellen euch einen Scheck aus. Seht euch an, was draus geworden ist, man käme im Leben nicht drauf, wie kaputt das alles war.
Die Erzählkunst von Colson Whitehead ist grandios. Mit viel schwarzem Humor und Slapstickszenen berichtet er über das schwarze New York, so dass die schrecklichen Bilder zwar eindrücklich, aber im Plauderton daherkommen, fast beswingt. «Abgesehen von der Hippiekleidung trugen schwarze Männer ihre Voll- und Schnurrbärte üblicherweise sauber gestutzt und stilvoll, ihre Afros tadellos gepflegt. Die Zotteln, mit denen diese weißen Kids durch die Gegend liefen — also, tote Katzen, die hinter Mülltonnen verwesten, hatten ihre besser in Schuss …» Dieses Bild der wilden Siebziger ist ein großes Sittengemälde Amerikas. Der Sprachsound ist einmalig. Big Apple, eine Stadt im ständigen Wandel, Jahr für Jahr ändern sich die Stadtteile – Spekulanten, Rassismus treiben die Armen an den Rand. «Ständig setzte einem neuer Sch… zu, und man musste sich anpassen, so war das Leben, … so schnell und war so raffiniert und merkwürdig, dass er Mühe hatte, auf dem Laufenden zu bleiben.» Aber natürlich ist dieser Roman gleichzeitig ein Hardboiled, ein Noir-Thriller, bei dem es ordentlich zur Sache geht. Überleben im Dschungel Harlems! Mit viel Liebe und und Tiefe beschreibt der Autor seine Figuren. Sprache und Sprachgebrauch wandeln sich im Lauf der Zeit. Colson Whitehead hat hier die Tonalität Amerikas Siebziger-Jahre historisch getreu wiedergegeben, was uns heute an manchen Stellen unangemessen scheinen mag. Aber genau das macht diesen Roman authentisch. Und dies wurde den Wünschen des Autors entsprechend übersetzt. Ein Noir-Thriller, eine Gauner-Komödie mit viel Humor und Unterhaltungswert, und gleichzeitig ein Zeitbild New Yorks der Siebziger. Ein klasse Roman – Empfehlung!
Wenn man Sozialhilfe bezog und aus seiner von Ungeziefer befallenen, baufälligen städtischen Wohnung in eine andere umziehen wollte, hatte man Anspruch auf ein paar Riesen für Umzugskosten und Möbel — wenn einem die Wohnung ausgebrannt war. Stand auf großen Schildern im Sozialamt, wie eine Gebrauchsanweisung. Was sollte man als strebsamer Mensch denn auch machen? Wie bei allem in der Stadt gab es Schmalspur-Maschen und Gaunereien großen Stils, und der ausgebuffte Betrüger wusste, welche davon nähere Aufmerksamkeit verdienten.
Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, ist einer der wichtigsten Autoren der neuen amerikanischen Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Underground Railroad (2017), der mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet wurde, Die Nickel Boys (2019), für den er 2020 erneut den Pulitzer-Preis erhielt, und Harlem Shuffle (2021). Der Autor lebt in Brooklyn. Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte
Thriller, Hardboiled, Noir, Noir-Thriller, Gauner-Komödie, Harlem, New York, Amerikanische Literatur
Hardcover, 384 Seiten
Hanser Verlag, 2023
Die Nickel Boys von Colson Whitehead
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Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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