Direkt zum Hauptbereich

Die Mauersegler von Fernando Aramburu - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Mauersegler 


von Fernando Aramburu


Die Mauersegler kommen erst im Frühjahr zurück. Sie haben mich mit der ganzen Meute Mensch allein gelassen, die für mich so anstrengend ist und mich um den Verstand bringt. Ich habe gelesen, dass Mauersegler bis jenseits der Sahara fliegen, bis nach Uganda und so, und dass sie die meiste Zeit ihres Lebens in der Luft verbringen. Genau das, was ich mir auch wünschen würde: Nie am Boden sein, nie einen anderen berühren.


Erinnert sich jemand an den Roman «Patria», eine Familiengeschichte im Umfeld des Eta-Terrors? Eins meiner Lieblingsbücher. Nun hat Fernando Aramburu wieder ein gewaltiges Werk vorgelegt. Es ist die Geschichte von Toni, einem gymnasialen Philosophielehrer, der in Madrid lebt und zum 31. Juli seinen Suizid plant. Er ist ja gewissenhaft – nicht etwa mitten im Schuljahr ... Ein Machismo, Typ Mann der aussterbenden Rasse, der alles und jeden hasst. Nach seiner Scheidung lebt er allein mit seinem Hund, den Sohn hatte seine Frau mitgenommen. Am 31. Juli beginnt sein letztes Jahr, und dieser Roman hat 365 Kapitel, eins für jeden Tag; ein Nachlass für seinen Sohn Nikita, um sich und seine Gedanken zu erklären. «..dies hier habe ich ganz lustlos geschrieben, allein aus der Gewohnheit heraus, täglich ein paar Zeilen persönlicher Chronik für niemand aufzuschreiben.» Die ersten Monate sind für Toni geprägt von Erinnerungen an seine Familie in der wechselhaften spanischen Geschichte, Beobachtungen seiner Landsleute und Erlebnissen, die ihn in seiner Weltsicht bestärken. 


Familiengeschichte und Männerfreundschaft


Diese alte Frau war nicht mehr meine Mutter; höchstens noch die Hülle einer früheren Mutter, die verdorrte Puppe eines menschlichen Schmetterlings, der vor einiger Zeit davongeflogen war und dessen Lebenszyklus schon bald beendet sein würde.


Doch irgendwann trifft er auf Águeda, eine ehemalige Freundin, die ihm immer noch nachtrauert. Wird er seinen Plan durchführen? Der Roman ist nicht chronologisch – Toni springt vom täglichen Geschehen und in den Erinnerungen seines Lebens querbeet. Kindheit, Ehe, die Beziehung zu den Eltern, zum Bruder, zu Frau und Sohn – und zu seinem Freund Humpel (nur er nennt ihn heimlich so), der einzige Mensch, den er nicht hasst. Es ist auch ein Familienroman, Tonis dysfunktionale Familie, die Schwiegereltern, politische Entwicklungen im Land, Religion – und es geht um eine Männerfreundschaft. Seinen Freund nennt er heimlich Humpel, weil er am 11. März 2004 bei dem als 11-M bekannten islamistischen Attentaten auf Züge in Madrid, die fast 200 Tote forderten, ein Bein verlor. Franquisten, Konservative, Sozialisten, strenge Katholiken; Klimaaktivisten, Sprachterroristen – Themen, die fast jede spanische Familie durchziehen; sie auch zerbrechen können. Und Toni spuckt auf Francos Grab für seinen damals von den Franquisten gefolterten Vater.


Ein Mann der von Selbstmitleid zerfressen ist 


Ich habe meine Eltern nie das Wort Liebe aussprechen hören. Liebe wurde nicht in Worte gefasst; sie wurde vorausgesetzt oder äußerte sich in Gesten und Taten. ... Mama verbrachte ganze Nachmittage damit, Anisplätzchen zu backen, Papa nahm uns mit ins Kino, irgendwann hörten sie auf uns zu schlagen, und all dies, nehme ich an, bedeutete Liebe. Ich habe den Verdacht, dass ich nicht lieben kann; dass ich es zwar anfange, es aber gleich wieder aufgebe, weil es mir zu mühsam ist, weil ich mich ablenken lasse oder es mir langweilig wird. Was für ein Jammer! Man hat mich gelehrt, Verben zu konjugieren, aber aktiv zu lieben, habe ich nicht gelernt, und ich fürchte, jetzt ist es zu spät dafür.


Toni, der jeden in seinem Umfeld hasst, die erfolgreiche Ex-Ehefrau Amalia, die ihn für eine Frau verlassen hat, der für ihn missratene Sohn mit Lernschwierigkeiten – ein erfolgloser Chaot – die Eltern und Schwiegereltern, der Bruder, Man mag keinen von Aramburus Protagonisten unbedingt kennenlernen. Vielleicht noch den Bruder Raoulito, den er gern bereits als Kind getötet hätte, der unter dem gewalttätigen Toni arg gelitten hat, dessen Tochter an einem Karzinom verstirbt; und die stets gut gelaunten Águeda, die Toni vor 27 Jahren für Amalia verlassen hatte, die ihn nie vergessen konnte und allen ihren Hunden den Namen Toni gab. Und nicht zu vergessen Tina, die lebensgroße Freundin aus Kunststoff – stumm, die ihn niemals kritisiert. Und es existiert ein anonymer Stalker, der Toni seit Jahren fiese Nachrichten in den Briefkasten wirft, sein Leben hinterfragt. War es Águeda? Toni, der einen Job hat, den er nicht mag, weder Schüler (bei einigen hat er Tötungsfantasien) noch Kollegen. Ein Mann, dem es eigentlich mehr oder weniger gut geht, der auch nicht unter Depressionen leidet – ein Mann der von Selbstmitleid zerfressen ist und sich an seinem Hass gegen sein Umfeld weidet. Sein Frauenbild ist das eines Machismo: Sie muss hübsch sein, hat ihm stets willig zu sein und zu gehorchen. 


Ein sprachliches Meisterwerk


Am liebsten hätte ich der alten Heuchlerin gratuliert und ihr gesagt: ‹Dein Enkel ist nicht getauft, deine Tochter ist Atheistin, schläft mit Frauen und wählt seit ewigen Zeiten die Sozialisten.› Ich biss mir auf die Zunge. Was hatte ich davon, dieses siebzig und noch was Jahre alte Kind zu erschrecken, das in seiner Verkalktheit überzeugt war, sich oben in der ewigen Seligkeit einen lichtdurchfluteten Platz mit idyllischem Ausblick verdient zu haben?.


Man könnte diesen Roman als Schelmenroman bezeichnen, als Satire aber auch als Gesellschaftsroman. Es gibt großartige Passagen, in denen sich der Leser an der ein oder anderen Stelle selbst wiederfindet. Mit viel Witz und feinem Humor beschreibt Fernando Aramburu hier einen Protagonisten, der sich die Seele freischreibt. Letztendlich ist er im wahren Leben ein angepasster Bürger und sein Umgang mit Frauen entspricht nicht ganz dem, was er zu Papier bringt und man vermutet, als Lehrer ist er nicht unbeliebt. Ein Wutschreiber, den man am Ende fast sympathisch wahrnimmt, denn Selbstkritik ist inbegriffen. Eine herrliche Gesellschaftssatire, ein sprachgewaltiges Epos, das sich süffig liest. Ein gelungener Roman, ein sprachliches Meisterwerk!


Ich entfremdete mich von meinen Jugendfreunden, wie sie sich untereinander entfremdeten, ohne dass es zu einem Streit gekommen wäre. Eheschließungen, Umzüge, Beruf Kinder schickten jeden auf eine andere Reise ... Waren die gemeinsamen Erinnerungen ausgetauscht, merkten wir, dass wir uns nicht mehr viel zu sagen hatten. Der einzige Freund aus alten Zeiten, mit dem ich noch Umgang habe, ist Humpel.


Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastián im Baskenland geboren. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt er in Hannover. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Premio Vargas Llosa, dem Premio Biblioteca Breve, dem Premio Euskadi und zuletzt, für «Patria», mit dem Premio Nacional de la Crítica, dem Premio Nacional de Narrativa und dem Premio Strega Europeo. «Patria» wurde als Serie für HBO verfilmt.



Fernando Aramburu 
Die Mauersegler
Originaltitel: Los vencejos, 2021
Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen
Zeitgenössische Literatur, Schelmenroman, Satire, spanische Literatur, Gesellschaftsroman
Hardcover mit Schutzumschlag, 832 Seiten
Rowohlt Verlag, 2022





Spanische Literatur

Interesse an Literatur aus Spanien? Hier findet ihr Bücher von spanischen Autor:innen mit Links zu meinen Rezensionen
Gastland Frankfurter Buchmesse 2022




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...