Direkt zum Hauptbereich

Die letzte Französin von Jérôme Leroy - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing






Die letzte Französin 


von Jérôme Leroy


Der erste Satz:
Der Grund dafür, dass der Kopf von Capitaine Mokrane Méguelati vom Regionalbüro des Inlandsgeheimdienstes gerade von einer Kugel vom Kaliber 12 mm zerfetzt worden ist, die mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 380m pro Sekunde aus einer Taurus-Pumpgun mit einem 51 Zentimeter langen Lauf abgefeuert wurde, einer Waffe in der Hand von Brigadier Richard Garcia von der Police Municipale, ist zweifellos in den geopolitischen Wirren zu suchen, die sich fernab von dieser unter einer Hitzewelle leidenden Vorstadt abspielen.


Ein rasanter Kriminalroman, der so richtig fetzt! Man hat kaum Zeit, Luft zu holen. In einer Hafenstadt im Nordwesten Frankreichs will Capitaine Mokrane Méguelati von der Terrorabwehr einen Informanten treffen, der allerdings Angst hat, dass man ihn bereits beobachtet. Darum muss er sich in einen gefährlichen Stadtteil begeben. Sein ungutes Gefühl wird bestätigt, als, kaum dass er in der Bar ankommt, ein Sturmtrupp das Feuer auf ihn und den Informanten eröffnet. Er entkommt als einziger dem Massaker, rennt um sein Leben, hält einen Polizeiwagen an. Brigadier Richard Garcia von der Police Municipale sieht nur die Waffe, und vor Angst erschießt er den Captain. Das alles auf den ersten Seiten. Mokrane Méguelati konnte seinem Chef gerade noch mitteilen, dass für den nächsten Tag ein Attentat geplant sei – nur wo konnte ihm sein Informant nicht mehr sagen.


Es herrscht Tohuwabohu

Dabei, ihr verdammten Vollidioten, denkt Mokrane Méguelati, während er prüft, ob seine Glock 41 mit Patronen vom Kaliber 45 ACP geladen ist, haben die französischen Muslime, wenn sie nicht selbst unter den Todesopfern sind, gar keine Zeit zu demonstrieren: Sie sind unter den Verletzten, unter dem Pflegepersonal, das sich um die Verletzten kümmert; unter den Lehrern, die am nächsten Tag versuchen, den Kids, die vor ihnen sitzen, zu erklären, was passiert ist; unter den Putzfrauen, die anschließend das Blut aufwischen; unter den Kosmetikerinnen, die dafür sorgen, dass ihr eure übernächtigten Gesichter einer Kamera präsentieren könnt, um auf den Infokanälen euren üblichen Sermon zu erzählen. Und sie sind sogar unter den Bullen, die Terroristen jagen und dabei immer wieder ihr Leben lassen.

Da niemand weiß, wo und wie der geplante islamistische Anschlag durchgeführt werden soll, läuft der Polizeiapparat heiß. Man beschließt eine Großrazzia in einem Stadtteil mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, was in der Folge zu einem nächtlichen Aufstand führt, zu Chaos auf den Straßen und die Arbeit der Terrorabwehr behindert. Es herrscht Tohuwabohu. Auch am Berufsgymnasium «Charles Tillon» ist die Stimmung angespannt, denn Schulen haben die Mitteilung erhalten, sie sollen extrem wachsam sein; manche Schüler sind erst gar nicht erschienen. Mit den Schülern sind die Verhaltensmaßnahmen bei einer terroristischen Lage bereits mehrfach geübt worden, sie wissen, was zu tun ist. Die bekannte Jugendbuchautorin Alizé Lavaux ist auf dem Weg in die Schule, um eine Lesung zu halten, die im Umbau ist, in Containern unterrichtet. Ein engagierter Lehrer bemüht sich, seinen Schülern Toleranz und ein friedliches Miteinander beizubringen. Doch auch diese Idealisten sind angeschlagen. Die Jugendlichen wiederum tragen lieber die sozialen und ideologischen Konflikte der Gesellschaft im Klassenraum aus, statt Romane zu lesen. Als die Bombenwarnung die Schule erreicht, muss sich die Klasse verbarrikadieren und der Streit eskaliert in diesem Container. Jérôme Leroys atemloser Roman ist eine rasante Tour de Force durch die politischen und ideologischen Untiefen der französischen Gesellschaft.


Es herrscht Tohuwabohu

Capitaine Mokrane Méguelati war gerade erst nach Hause gekommen, in sein Haus mit Meerblick in Sainte-Marguerite, einem ziemlich schicken Wohnviertel der Hafenstadt. Für die Abbezahlung des Kredits würde er vierzig Jahre benötigen, und das, obwohl seine Frau Fadila im Management einer Bank arbeitet und sie deshalb Sonderkonditionen erhalten hatten. Aber das ist es ihnen wert. Sie ziehen ihre beiden Töchter mit Blick auf einen freien Horizont auf, es weht eine salzige Brise und es ist ruhig. Ihre Nachbarn sind wohlhabend, tolerant katholisch, in der Regel mitte-rechts eingestellt, und sie tun so, als hätten sie vergessen, dass Capitaine Mokrane Méguelati, seine Frau Fadila und ihre Töchter Warda und Juliette schon ganz schön arabisch sind. ...

Dieser Politkrimi hat lediglich 101 Seiten. Jérôme Leroy hat die Geschichte extrem verdichtet und trotzdem seinen Figuren eine Tiefe gegeben. Der auktoriale Erzähler geht sogar so weit, uns zu erklären, wie das Leben seiner Protagonist:innen sich in der Zukunft entwickeln wird – absolut genial. Im Telegrammstil charakterisiert er seine Charaktere und blättert damit die französische Gesellschaft auf, von Misogynie, Bildungsnotstand über Rechtsradikale, Freimaurer, Einfluss von Islamisten in den Banlieues, islamistische Anschläge; das alles mit einem Schlag Humor. Großartig geschrieben, prägnant und klug auf den Punkt gebracht. Hardboiled, Noir, «bald liegt eine Menge Hirn auf dem Asphalt»; ein Krimialroman, der gleichzeitig ein Gesellschaftsroman ist. Unbedingt lesen, extrafeine Kriminalliteratur!


… trinkt sie an der Gare Saint-Lazare einen Kaffee und blättert dabei eine Gratiszeltung durch mit dem Aufmacher: Allergien: Welche Gefahr uns von Milben droht. ‹Immerhin geht es ausnahmsweise mal nicht um Muslime›, sagt Alizé Lavaux …


Jérôme Leroy, geboren 1964 in Rouen, ist Autor, Literaturkritiker und Herausgeber. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Auf Deutsch erschienen bisher »Der Block« (2017), »Die Verdunkelten« (2018), »Der Schutzengel« (2020), »Terminus Leipzig« (2022), ein Gemeinschaftswerk mit Max Annas, sowie »Die letzten Tage der Raubtiere« (2023). »Der Block« wurde mit dem Deutschen Krimipreis 2018 in der Kategorie International (3. Platz) ausgezeichnet. Jérôme Leroy lebt in Lille.




Jérôme Leroy 
Die letzte Französin
Original: La petite gauloise. La Manufacture de livres, 2018
Aus dem Französischen von Cornelia Wend  
Politkrimi, Gesellschaftsroman, Krimi, Kriminalroman, Kriminalliteratur, Französische Literatur
Broschur, 101 Seiten
Edition Nautilus, 2025 





Die letzten Tage der Raubtiere von Jérôme Leroy

Es herrscht Chaos in Frankreich: Eine Dürre ist ausgebrochen und das Wasser wird knapp, Waldbrände sind kaum zu bändigen, Gelbwesten blockieren die Straßen, Impfgegner machen mobil; die Polizei setzt einen brutalen Lockdown durch … Emmanuel Macron im Rock mit langen blonden Haaren, mit Namen Nathalie Séchard: Die Präsidentin ist müde, hat ihren Job satt und will zur nächsten Wahl nicht mehr kandidieren; sie will lieber mit ihrem sehr jungen Liebhaber mehr Zeit verbringen. Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein und das Messerstechen um eine:n neue:n Kandidat:in ist eröffnet. Kandidaten, die mit allen Tricks agieren, ihre Gegner versuchen auszuschalten, dabei über Leichen gehen. Polit-Noir, ein fast apokalyptischer Ritt durch die französische Politszene … eine vorstellbare bitterböse Kriminalliteratur, Noir-Thriller. Wollen wir hoffen, dass dies nur ein Roman bleibt! Empfehlung!

Weiter zur Rezension:   Die letzten Tage der Raubtiere von Jérôme Leroy



Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo