Direkt zum Hauptbereich

Die langen Abende von Elizabeth Strout - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die langen Abende 


von Elizabeth Strout 


Es war November, der erste Schnee in Crosby, Maine, stand noch aus, und weil an diesem Mittwoch die Sonne herausgekommen war, lag eine geradezu bedrohliche Schönheit über der Welt. Die Eichen trugen noch Laub, verschrumpelt und golden, und die Nadelhölzer standen stramm, als frören sie, aber die anderen Bäume waren kahl und reckten ihre spitzen schwarzen Äste in den Himmel.

 

Wer Elisabeth Strout kennt, weiß, dass ihre Romane eigentlich so etwas wie zusammenhängende Kurzgeschichten sind, Erzählungen über Menschen wie du und ich. Eben das ist das Besondere: Kleinstadtgeschichten, in einem episodisch angelegten Roman, in dem man sich selbst wiederfindet. Das Ganze wird durch schwarzen Humor unterfüttert. In Crosby, einer kleinen Stadt an der Küste von Main passiert nicht viel. Nicht weit entfernt von New York werden die Küstenstädte im Sommer voll, den Rest des Jahres lassen es sich Rentner hier gut gehen und die ältere Bevölkerung der Einheimischen, weil die Jungen fast alle abgewandert sind. Dieser Roman befasst sich mit dem Altern, mit Generationenkonflikten, Verlust und Trauer, Schuld und Sühne. Olive Kitteridge, eine pensionierte Lehrerin Anfang siebzig, mischt sich gern in die Angelegenheiten von anderen ein. Zurückhaltung und Feingefühl sind nicht ihre Tugend. 


Jetzt gestattete Jack es sich doch, an Olive Kitteridge zu denken: Groß, wuchtig; mein Gott, war sie eine seltsame Frau. Aber sie hatte ihm gefallen, sehr sogar, sie hatte eine Ehrlichkeit – war es Ehrlichkeit? – irgendetwas hatte sie an sich.


Jack Kennison, einst Harvardprofessor, ist der Meinung, sie ist die einzige Witwe im Ort, mit der er es sich zu leben vorstellen kann. Beiden sind die langjährigen Ehepartner verstorben und nach einer Trauerphase hat beide die Einsamkeit übermannt. Beide vermissen ihre Kinder, die in New York leben, ihnen fremd geworden sind, woran Olive und Jack selbst nicht gerade unschuldig sind … Sie schätzen sich gegenseitig sehr. Und Olive hat sich vorgenommen, Milde walten zu lassen, sie weiß heute, «... wann man besser den Mund hält.» Das Leben, das vor ihnen liegt, ist kurz – warum sollte man sich über Eigenheiten, die stören, aufregen? Vertane Zeit, obwohl es einiges gäbe, das ihr an Jack auf die Nerven fällt. Jack sagt: «Wir haben nicht viel Zeit», bittet sie, ihn zu heiraten. Etwas, das bei Olivs Sohn keine Zustimmung findet. 


Jack kamen ihre dicken alten Leiber immer vor wie zwei am Strand angespülte Schiffbrüchige, die sich verzweifelt aneinander festklammern. Nie im Leben hätte er es für möglich gehalten, seine letzten Jahre mit solch einer Frau zu verbringen. Die Sache war, bei ihr konnte er er selbst sein.


Eine zweite Liebe im Alter und viele Randgeschichten von Menschen, denen Olive begegnet. Tragik und Bitternis, Familiengeschichten, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und häusliche Gewalt, die Schwierigkeit des Alterns, Demenz; lebensecht und feinsinnig, nüchtern betrachtet, auf den Punkt gebracht, beobachtet Elizabeth Strout Menschen, mit allen Facetten. Olive, spröde und zynisch, aber doch das Herz auf dem richtigen Fleck, nervtötend in ihrer ständigen Hilfsbereitschaft. Genau das gibt dank des schwarzen Humors und der Situationskomik der Traurigkeit vieler Szenen etwas Komisches.


Jahre später hatte er es bei einem Streit aufs Tapet gebracht, und Betsy hatte gesagt: ‹Ich habe gehofft, dass du stirbst.›

Ihre Unverblümtheit hatte ihn schockiert. ‹Du hast gehofft, dass ich sterbe?› In der Erinnerung hatte er verwundert die Arme ausgebreitet, während er das fragte.

Worauf sie, etwas betreten, sagte: ‹Es hätte für mich alles viel leichter gemacht.›

Da hatte er es.

Oh, Betsy! Betsy, Betsy, wir haben es versiebt.


Rückblicke in Lebensläufe, Olive erinnert sich, als sie als Kind die Mutter fragte, warum sie keine Geschwister habe; die Mutter antwortete: «Nach dir? Das haben wir uns nicht getraut, nach dir nochmal ein Kind zu bekommen.» Strout kennt sich sehr gut aus mit dem Altern, denn sie hat u.a. Gerontologie studiert, und sie beschreibt mit aller Härte, aber gleichzeitig auch sehr liebevoll empathisch, welche Schwierigkeiten Menschen im Alter bevorstehten. Prostataoperation, Inkontinenz, Krebserkrankungen, Herzinfarkt, Demenz, Suizide, Alterswindeln, fette Leiber, die engumschlungen einschlafen – das sind keine romantischen Liebesgeschichten für Heftchenromane – und trotzdem gehen sie ans Herz, weil sie authentisch sind. Auch im Alter gibt es Lebensfreude, Menschen werden ruhiger, altersweise und manche schaffen es, sich weiterzuentwickeln. Ein  Roman, der von Liebe und Verlust erzählt, vom Altern und der Einsamkeit, Schicksalsschlägen, Hoffnungslosigkeit und auf der anderen Seite Lebensfreude und Hoffnung.


Als er starb, neben ihr, im Schlaf, schlugen Ozeane der Angst über ihr zusammen. Tag für Tag beutelte die Angst sie. Komm zurück, dachte sie immerzu, oh bitte bitte bitte komm zurück!


Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Für ihren Roman »Mit Blick aufs Meer« bekam sie 2009 den Pulitzerpreis. »Die Unvollkommenheit der Liebe« wurde für den Man Booker Prize 2016 nominiert. »Alles ist möglich« wurde 2018 mit dem Story Prize ausgezeichnet, erhielt ein überwältigendes Presseecho in den USA und stand in allen großen Medien auf den Empfehlungslisten. Die Übersetzungsrechte ihres neuen Romans wurden in bisher 17 Länder verkauft. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.


Elizabeth Strout 
Die langen Abende 
Originaltitel: Olive, Again, 2019
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Roth
Roman, zeitgenössische Literatur, amerikanische Literatur
Luchterhand Literaturverlag, 2020 Hardcover
btb, 2021, Taschenbuch



Alles ist möglich von Elisabeth Strout

Es braucht kein großes Ereignis, um einen guten Roman zu schreiben. Das Leben bietet Geschichten genug. Letztendlich ist dieser Roman eine Vernetzung von Kurzgeschichten. Eine Kleinstadt im ländlichen Mittleren Westen, Amgash, Illinois, ist der zentrale fiktive Ort. Menschen, Schicksale, Protagonisten, die sich immer mal wieder kreuzen. Alles ist möglich, wenn man es tut – oder unterlässt, zulässt. Der eine ist mutig, der andere ist ein Zauderer, dem nächsten passiert einfach etwas und wieder ein anderer ist boshaft. Elisabeth Strout hat die Gabe, Menschen zu beobachten, die Essenz der Schicksale zusammenzufassen.



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER von Holly Jackson

Ein überraschend guter Jugendkrimi ab 14 Jahren! Für ein Schulprojekt will Pippa, genannt Pip, den Vermisstenfall «Andie Bell» rekonstruieren, wobei sie die Bedeutung der Printmedien und Social Media untersuchen will. Andie Bell war fünf Jahre zuvor in einer Nacht verschwunden. Ihr Freund Sal Singh wurde verdächtigt, denn es gabt einige Spuren, die zu ihm führten, die Medien fuhren sich auf ihn ein. Sal Singh hatt kurz darauf Suizid begonnen, sich an einem Baum aufgehängt. Für den gesamten kleinen Ort und für die Polizei war die Sache klar: Andie ist ermordet worden, Sal bringt sich um und gesteht somit den Mord. Pip will genau wissen, was damals geschah. Weiter zur Rezension:  A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER von Holly Jackson

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch