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Die falsche Zeugin von Karin Slaughter - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die falsche Zeugin 


von Karin Slaughter 

Gesprochen von: Nina Petri
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Std. und 44 Min.


Der Anfang: 

Callie hörte aus der Küche, wie Trevor an das Aquarium klopfte. Sie schloss die Hand fester um den Kochlöffel, mit dem sie den Plätzchenteig umrührte. Er war erst zehn. Sie vermutete, dass er in der Schule gemobbt wurde. Sein Vater war ein Arschloch. Der Junge war allergisch auf Katzen und fürchtete sich vor Hunden. Jeder Psychologe würde einem sagen, dass Trevor die armen Fische terrorisierte, weil er verzweifelt um Aufmerksamkeit buhlte, aber Callie konnte es nur mit Mühe ertragen.


Callie und Leigh waren Kinder, als es passierte. Das liegt seit mehr als 20 Jahren hinter ihnen. Callie hat es damals nicht verkraftet; sie ist drogenabhängig, hält sich tapfer über Wasser. Leigh hat Jura studiert, war früher bei der Staatsanwaltschaft. Heute ist sie Anwältin in einer renommierten Kanzlei. Sie musste immer mehr kämpfen als andere. Denn ihre Kindheit war geprägt von Gewalt, einer Mutter, die sich nicht kümmerte, die nie Geld hatte. Aber Leigh hat es geschafft. Verheiratet mit Walter führt sie ein gutbürgerliches Lebens, Tochter Maddy ist ein großes Glück. Bis zu dem Tag, als sie den Auftrag bekommt, die Verteidigung eines mutmaßlichen Vergewaltigers und Mörders zu übernehmen. Der Fall könnte Leighs Karriere einen mächtigen Schub verpassen. Doch als sie dem Angeklagten gegenübersteht, wird ihr klar, warum er ausgerechnet sie als seine Anwältin auserkoren hat.


Alte Wunden brechen auf

Der Mandant Andrew Tenant hatte Octavia vor zwei Tagen gefeuert. Nein, er hatte ihr keine Erklärung dafür gegeben. Ja, Octavia hatte bis zu diesem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass Andrew mit ihrer Beratung zufrieden gewesen war. Nein, sie konnte sich keinen Grund vorstellen, wieso Tenant die Anwältin wechseln wollte, aber vor zwei Stunden war Octavia angewiesen worden, alle Fallakten an Bradley, Canfield & Marks, zu Händen von Leigh Collier zu übergeben. Die Worte so beschissen waren als Entschuldigung gemeint, dass sie ihr acht Tage vor Verhandlungsbeginn einen Geschworenenprozess vor die Füße warf. Leigh hatte keine Ahnung, warum ein Mandant eine der besten Strafverteidigerinnen der Stadt abservierte, wenn sein Leben auf dem Spiel stand, aber sie musste davon ausgehen, dass der Mann ein Idiot war. Das größere Rätsel war allerdings, woher Andrew Tenant überhaupt Leighs Namen kannte.


Andrew Tenant hat den Namen gewechselt. Zunächst war Leigh damals als Schülerin sein Babysitter. Doch als sein Vater ihr an die Wäsche ging, hatte sie den Job gekündigt. Doch leider übernahm die zwölfjährige Callie den Job. Auch Callie wurde Opfer von Buddy. Der brutale Mann missbrauchte das Mädchen, das dafür Geld erhielt, um sich Kleider und Schmuck zu kaufen. 


Wie der Vater, so der Sohn

‹Himmel, deine Hände sind so klein.› Buddy öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Drückte sie herunter. Der Teppich hinter der Bar fühlte sich nass an. Ihre Knie saugten sich an der Wolle fest. ‹Du bist meine kleine Ballerina.›


20 Jahre zuvor: Eines Tages bekommt Callie heraus, dass Buddy heimlich filmt, was er mit ihr macht das und auch noch live an seine Kumpel versendet, die dafür zahlen. Callie wird wütend, will nach Hause gehen, niemals zurückkommen. Doch Buddy schlägt brutal zu. Die fitte Turnerin kann sich entwinden und in ihrer Not wehrt sie sich ... dann ruft sie ihre Schwester an ... Und nun sitzt der kleine Andy, der Sohn von Buddy, vor Leigh: Andrew Tenant steht unter dem Verdacht, ein brutaler Vergewaltiger zu sein, der seine Opfer misshandelt und anschließend tötet. Grinsend erklärt er Leigh: Ich weiß, was ihr damals gemacht habt! An dem Tag, als mein Vater verschwand. Leigh bekommt den Auftrag, Andrew vor der Verurteilung zu retten – mit welchen fiesen Mitteln auch immer – ansonsten kommen die Beweise auf den Tisch, Videos ins Netz.


Literarischer Noir, bei dem lange unklar bleibt, wer die Katze und wer die Maus ist

Drogenkrise, Pandemie und ihre Auswirkung – Karin Slaughter ist wie immer mitten drin in der Realität. Auch in diesem Thriller geht sie tief in die Charaktere hinein, in die Beziehung der Schwestern, in das Debakel der Drogenkarriere von Callie. Fein ausgearbeitet sind hier die Hintergründe, weshalb Therapien so oft scheitern. Die Sucht von Callie hatte zur Entfremdung zwischen den Schwestern geführt. Andrews Mutter hatte sich damals wieder aufgerappelt, eine Autohauskette gegründet. Die Familie war zu Wohlstand gekommen und Andrew folgt charakterlich seinem Vater: Aus ihm wird ein manipulativer, brutaler Soziopath, der Spaß daran hat, sich an Frauen zu vergehen. Und diesen Mörder soll Leigh herausboxen? Es bleibt ihr wohl nichts anderes übrig. Schon wieder wird sie Schuld auf sich laden. Andrew wird nicht aufhören zu morden. Wer sind die nächsten Opfer? Leigh muss Callie kontaktieren, die sich versteckt hält. Hier zeigt sich auch das gesellschaftliche Amerika der weißen Männer, die das Sagen haben. Sexismus, sexuelle Belästigung, Kindesmissbrauchs, häuslichen Gewalt stehen an der Tagesordnung. Die Täter kommen meist gut davon, insbesondere, wenn sie genügend Geld in der Tasche haben, um sich einen guten Anwalt zu leisten. Der Spieß dreht sich um, der Täter wird als Opfer präsentiert, das Opfer zum Täter stigmatisiert. Die Entscheidung der Autorin, die Auswirkungen von COVID-19, die täglichen Einschränkungen im Leben in dieses Buch einzubauen, verleiht der Story einen realistischen Ton! Wie immer bei Karin Slaughter gibt es einen gut recherchierten gesellschaftlichen Hintergrund voller Abgründe – nichts für schwache Nerven. Leigh und Callie, sie sind beide Königinnen der Selbstzerstörung! Jede auf ihre Weise. Obwohl dieses Buch nicht mit den anderen Thrillern von Karin Slaughter vergleichbar ist, behält sie ihre typische Romanstruktur bei. Spannend, raffiniert konstruiert, wendungsreich, ausgefeilte Charaktere, geschrieben mit Niveau. Literarischer Noir, bei dem lange unklar bleibt, wer die Katze und wer die Maus ist. Empfehlung!


Karin Slaughter ist die Autorin von über zwanzig New-York-Times-Bestseller-Romanen. Dazu zählen Cop Town, der für den Edgar-Allan-Poe-Award nominiert war, sowie die Thriller Pretty Girls, Die gute Tochter und Ein Teil von ihr. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ein Teil von ihr ist als Serie mit Toni Collette bei Netflix erschienen. Die falsche Zeugin sowie die Grant-County- und die Georgia-Reihen werden fürs Fernsehen verfilmt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation «Save the Libraries» für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta.


Karin Slaughter 
Die falsche Zeugin
Gesprochen von: Nina Petri
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Std. und 44 Min.
Originaltitel: False Witness
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Fred Kinzel
Thriller, Kriminalliteratur, amerikanische Literatur, Gewalt gegen Frauen, Noir, Noir-Thriller
Harper Audio, Audible, 2021
HarperCollins Verlag 2021, gebunden 592 Seiten, Taschenbuch 2022 


Weitere Rezensionen zu Karin Slaughter:




© Sabine Ibing

Ein guter Roman darf auch spannend sein – Und ein guter Krimi ist auch gute Literatur! von Günther Butkus


Ein weiterer Beitrag zur Rubrik: Krimis und Thriller - eigentlich ein kunterbuntes Genre

Friedrich Schiller kann man mit seiner Erzählung »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« (1786) als Vorreiter des Genres Kriminalliteratur bezeichnen. Kriminalliteratur ist an sich keine Trivialliteratur, wie fälschlicherweise eine Zeit lang behauptet wurde. »Schuld und Sühne« von Fjodor Dostojewskis, Wilhelm Raabes »Stopfkuchen«, »Michael Kohlhaas« von Heinrich von Kleist, »Die Judenbuche« von Annette Droste Hülshoff«, sie alle gehören dazu.

Günther Butkus zum literarischen Krimi:
Jeder Mensch trägt seit Kindheitstagen ein Raster in sich, eine Prägung, wie er auf Sprache, Musik, Bilder, Natur etc. reagiert. Unbewusst gleichen wir jeden neuen Eindruck mit dem ab, was in uns ist. Damit dies gelingt, muss die Sprache mehr sein, als nur der Transportbehälter für Inhalte. 
Neugierig? Hier geht es zum Artikel:  Ein guter Roman darf auch spannend sein – Und ein guter Krimi ist auch gute Literatur! von Günter Butkus




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller


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