Rezension
von Sabine Ibing
Das ferne Dorf meiner Kindheit
von Yavuz Ekinci
Ein großer Familienroman, der fast ein Jahrhundert umspannt, der die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von drei Völkern erzählt, zwei, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Rüstem wächst in einem kleinen kurdischen Dorf in den Bergen auf. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, er lebt mit seinem Vater und den älteren Geschwistern im Haus seiner Großeltern. Zwischen dem Vater und dem Großvater herrscht ständiger Streit, auch das Verhältnis zwischen den Großeltern ist angespannt. Stück für Stück wird die Familiengeschichte aufgerollt, die eine blutige Zeitgeschichte beinhaltet.
Zwei Generationen mit ähnlichem Schicksal
Eine Wunde bin ich! Eine offene Wunde. Seit achzig Jahren schwärt die Wunde in meinem Herzen und ist weder Verheilt noch verkrustet, nein, vielmehr wird sie von Tag zu Tag gerößer und tiefer, und je größer sie wird, umso kleiner werde ich, und je kleiner ich werde, umso größer wird sie.
Rüstems Leben ist geprägt von patriarchalischen Strukturen, religiösen Riten, Aberglaube, Gewalt und einem politischen Konflikt, der sich dem Jungen nach und nach mit dem Älterwerden erschließt: Sein ältester Bruder ist in die Berge geflohen, er gehört zum Widerstand. Immer wieder durchsuchen Soldaten das Haus der Familie, das ganze Dorf wird umgekrempelt. Immer wieder müssen Kurden ihr Leben lassen. Das anfängliche kindliche Geplapper verdichtet sich, zunehmend wird der Konflikt persönlicher und heftiger. In Behörden und in der Schule wird verboten, die Muttersprache Kurdisch zu sprechen. Eine Last für seinen Großvater, der kein Türkisch spricht, im Amt dafür verprügelt wird. Der Roman heißt im Original «Cennetin Kay¿p Topraklar¿» – Die verlorene Erde des Paradieses. Genau das trifft den Kern der Geschichte. Kurden, denen die Türken versuchen, ihre Identität zu nehmen, sie aus ihren Dörfern vertreiben. Hatice, die Großmutter von Rüstem muss ihre Identität sogar verstecken. Hatice ist nicht ihr richtiger Name. Sie hatte als einzige das Massaker an einem armenischen Dorf überlebt. Hassan hatte sie gefunden, für einige Zeit in seinem Stall versteckt. «Er sagte mir die Worte vor, ich sagte sie ihm nach. Und noch einmal und noch einmal, und so wurde ich in dem dunklen Stall zur Muslimin und löste mich von Jesus Christus, dem Messias, an den ich so viele Jahre geglaubt hatte. Dass ich jene Worte nur aus Angst und Verzweiflung wiederholte, wissen aber sowohl Allah als auch Jesus.» Als Hatice und als Muslima verlässt sie den Stall, heiratet Hasan, der behauptet, er hätte sie aus Aleppo mitgebracht. Von nun an lebt sie mit denen zusammen, die ihre Liebsten abgeschlachtet haben.
Poetisch, politisch, einfühlsam
Der Lehrer baute sich vor uns auf und sagte: ‚Ihr redet von jetzt an nur noch Türkisch, ob zu Hause, in der Schule oder auf dem Feld. Kurdisch ist verboten. Und wer sich nicht daran hält, kriegt eine Tracht Prügel von mir. Ein paar von euch bekommen von mir den Auftrag, jeden zu melden, der weiterhin Kurdisch spricht.
Ein Drama über kulturellen Verlust, das berührt. Batman, eine kurdische Stadt im Südosten der Türkei, die Geburtsstadt von Yavuz Ekinci, ist der Ort, in der die Familie am Ende landet; das Dorf, das im Verlauf zerstört wird, befindet sich in der Nähe. Eine Geschichte voller Gewalt; die aber so poetisch mit viel Liebe zum Land erzählt wird, dass sie nicht loslässt. Die Art des Abendlandes, Geschichten zu erzählen, voller Poesie, Liebe, Humor, mit einer Menge Drama, besitzt eine ungeheurere Kraft, die sich auch in diesem Roman entfaltet. Drei Perspektiven, die erste, eine kindliche, die des kleinen Rüstems, beobachtend; er versteht nicht alles, was vorgeht. Zu Beginn ist die Erzählung mit viel Humor durchsetzt, wird immer beklemmender. Wir wechseln zu Hatice, der Großmutter von Rüstem, die uns von ihrer verlorenen Liebe erzählt, von ihrer verlorenen Familie, von ihrer verlorenen Identität – von einem Leben, das sie so nicht gewollt hat, der Preis dafür, überlebt zu haben.
Eine Familiengeschichte - ein Genozid
‹Was macht ihr da eigentlich?› Mirza zeigte auf die rote Ameise, die um ihr Leben kämpfte, und sagte strahlend: ‹Schau Mama, die da ist Armenierin, auf die lassen wir die muslimischen Ameisen los.› … ‹Bringt sie um! Bringst die Armenierin um!
Am Ende berichtet der auktoriale Erzähler von einem Versprechen, das eingelöst werden muss und hier geht es nochmal tief unter die Haut. Ein Vater, der seinen Sohn traktiert, den Enkel vergöttert; eine Schwiegermutter, die ihre Schwiegertochter traktiert und Soldaten, Beamte, die ständig ein ganzes Volk drangsalieren; töten, wer sich ihnen widersetzt. Yavuz Ekinci lebt seit Juni 2023 mithilfe des PEN Berlin vorübergehend in Deutschland – warum kann man sich sicherlich ausmalen. Politische Romane, die die Wirklichkeit abbilden, über die niemand reden darf. Unterdrückung der Kurden und der kurdischen Identität, die Auslöschung der Armenier, ein Völkermord, der von der Türkei geleugnet wird. Der Autor wurde wegen «terroristischer Propaganda» angeklagt. Er selbst sagt dazu: «Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen Politik und Schriftstellerei. Politik hat das Ziel, andere Menschen zu verurteilen, sie polarisiert. Während Schriftstellerei uns helfen sollte, Menschen zu verstehen, uns einzufühlen auch in jene, mit denen wir gar nicht einverstanden sind.» Er sagt, er habe keine Großmutter die den Genozid überlebte, aber er hat einige überlebende Frauen des Genozids in seiner Kindheit kennengelernt, die «gerettet» wurden, indem man sie verheiratete. Eine Geschichte aus seiner Heimat, Erinnerungen aus der Kindheit, eine brutale Wirklichkeit, die hier abgebildet wird mit wundervollen Charakteren. Absolute Empfehlung!
Mir war meine Religion genommen worden, mein Name, mein Dorf war geplündert worden, meine Angehörigen niedergemetzelt und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, und ich stand da und schwieg, als hätte ich geschworen, nie wieder zu sprechen.
Yavuz Ekinci, 1979 in Batman geboren, arbeitet als Lehrer und ist Herausgeber einer Reihe zur kurdischen Exilliteratur. Für sein Prosawerk erhielt Ekinci zahlreiche Preise, darunter den Human Rights Association Story Award. Zuletzt erschienen die Romane »Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam« (2017) und »Die Tränen des Propheten« (2019). Ekinci lebte in Istanbul, heute in Deutschland.
Das ferne Dorf meiner Kindheit
Originaltitel: Cennetin Kay¿p Topraklar¿
Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier
Zeitgenössische Literatur, türkische Literatur, Drama, Kurdenkonflikt, Armenier, Völkermord, Genozid, historischer Roman, Familiengeschichte
Hardcover mit Schutzumschlag, 325 Seiten
Kunstmann Verlag, 2023
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
Kommentare
Kommentar veröffentlichen