Rezension
von Sabine Ibing
Chaos im Kopf
von Michèle Minelli
Antonia – vierzehn-dreiviertel
Der Anfang:
Das Problem ist meine Mutter. Ich sehe Harry, den Mund offen wie ein gestrandeter Fisch, ich sehe Paul, die Hände in den Taschen, Tim mit Glotzaugen rauf und runter Haut-den-Lukas üben, und natürlich strahlt Emmi über beide Backen.
Chaos im Kopf in Prosa auf Papier gebracht. Genauso liest sich der Anfang dieses Romans. Und genau das ist ein Problem. Antonia in der Schule, Elternsprechtag, die Mutter erscheint, Männern fallen die Augen aus, Schüler pfeifen: Sie sieht aus wie eine überschminkte Filmdiva, trägt hyperkurzem Mini weiße Westernstiefel – Toni ist das alles nur peinlich. Die Mutter redet vom Zuchthengst der Tochter, der leider zur Schlachtbank geführt werden muss. Der Leser wird in etwas hineinkatapultiert, ungeordnet, unverortet. Antonias Gedanken quer zu dem, was sie erlebt. Es klingt sehr amerikanisch, alle Namen und das Prozedere drum herum. Und da ist Emily, Antonias Freundin, überbehütet von Bio-Helikoptereltern mit deutsch klingenden Namen. In der Bahn sprechen Leute laut türkisch und spanisch in ihr Handy – Letzteres versteht Toni. Wo auf dieser Welt befinden wir uns? Die Schriftstellerin ist Schweizerin und irgendwann, denke ich, ja, wir befinden uns irgendwo in der Schweiz – das dauert aber. Die Icherzählerin überschüttet uns mit Beobachtung, Gedanken, Rückerinnerungen, Gefühlen im Wechsel in Prosa und es ist anstrengend das erste Viertel zu lesen. Danach wird es sprachlich ruhiger und und man kommt hinein in das Buch, das eigentlich sehr lesenswert ist. Ich habe nur die Befürchtung, dass viele Jugendliche in dieser unverorteten, chaotischen Präsentation nach ein paar Seiten aufgeben. Auch ich war kurz davor den Jugendroman zur Seite zu legen.
Wer ist der Typ des Monats?
Das Problem ist die Mutter. Sie ist eine ziemlich gut aussehende Narzisstin, mittellos, und sie ist eine Narzisstin, die mit einer Pseudologia phantastica Störung behaftet ist. Das heißt, sie lügt überall und ständig. Meist enthält ihre Darstellung bei solchen Menschen einen wahren Kern, um den herum sie Geschichten erfinden, die dann eine eigene Dynamik entfalten, die der Betroffene oft selbst nicht mehr überschaut. Sie glauben selbst an das, was sie erzählen. Die zwanghaften Lügner haben ein triebgesteuertes Geltungsbedürfnis, das sich oft mit Narzissmus vereint (dem Gefühl, eigentlich minderwertig zu sein, das sie überdecken zu müssen). Lügen sind dazu da, sich eine Bühne zu verschaffen und auf sich aufmerksam zu machen. Wir erfahren gleich zu Anfang, dass Angi, die Mutter von Toni, so ein Typ ist. Das erwähnte Pferd muss zum Schlachthof, ja, aber es gehört nicht Toni – die durfte es im Gegenzug für Stallarbeiten hin und wieder reiten. Und so reitet sie mit dem Hengst in ihrer Fantasie durch den Wald ... entflieht der Wirklichkeit. Zu Hause ist mal wieder die Wohnung umgestellt, der Essbereich neu gestrichen, neues Geschirr steht auf dem Tisch. Toni und ihre zwei Schwestern ahnen, was das bedeutet. Die Mutter hat einen neuen Typ aufgerissen, den «Typ des Monats». Wohl wieder einer dieser Looser, wie der fantastische Chirurg, der sich als Krankenpflegehelfer entpuppte usw. Der Neue, Charles Feodor Blavatsky, lebt auf einer riesigen Ranch unter Pferden, die er züchtet. Ein schmieriger Typ, den Tonie nicht leiden kann. Und sie stellt fest, ihre geliebten Reitstiefel sind weg. Die Mutter hat sie im Second Hand Shop gegen ihre neuen weißen Kunststoffwesternstiefel eingetauscht – um vor Charly zu protzen, der übrigens Versicherungsvertreter ist; irgendeiner seiner Ahnen hat in Russland Pferde gezüchtet.
Kleine Schultern die eine ganze Last tragen müssen
In diesem System stecken so viele Fehler! Die Welt, die die Erwachsenen für sich geschaffen haben, besteht aus Lug und Betrug.
Antonia fühlt sich wohl in Emilys Familie. Dort gibt es regelmäßiges Essen, es ist ordentlich, man hört sich gegenseitig zu und die Eltern kümmern und sorgen sich um die Tochter, sie bekommt alles, was sie braucht im Übermaß. Aber die Eltern bewachen Emmi und verlangen von ihr, dass sie lernt. Sie hätte gern Angie zur Mutter, die sich nicht um ihre Kinder kümmert. Tonis Berufswunsch ist klar: Sie möchte Filmregisseurin werden. In ihrer Fantasie konstruiert sie Filmszenen. Aber dazu braucht man das Abitur und ein Studium. Angie möchte, dass Toni nach der zehnten Klasse die Schule verlässt und arbeiten geht, natürlich Ausbildung. Das sei alles Staatszwang und Ausbeutung – ihre Familie sei anders, sie seien frei, entzieht sich dem totalitären Staat. In dieser Familie kommt Antonia nicht zum Lernen, kein Rückzug, keine Ruhe. Hat die Mutter mal einen Job, verliert sie ihn innerhalb eines Monats, lebt lieber vom Amt. Manchmal ist es so schlimm, dass Toni gern zum Amt gehen würde. Aber sie hat Angst um Pippa, die jüngste Schwester. Denn wenn das Amt einschreitet in der Schweiz, dann kann es heftig werden. Toni möchte nicht, dass Pippa im Heim landet oder ihre Mutter im Knast. Toni hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf die Mutter aufzupassen, damit sie nicht noch mehr Blödsinn macht, auf die Geschwister zu achten – vernünftige Toni, kleine Schultern die eine ganze Last tragen müssen ... Charly lädt die Familie zum Urlaub auf die Kanaren ein. Endlich Entspannung. Doch auch das wird eine riesige Katastrophe ...
Guter Stoff, schwer erzählt
Es ist eine harte Geschichte – am Ende wird alles gut für Emmi. Es ist der Aufruf, sich Hilfe zu suchen, wenn man es zu Hause nicht mehr aushält. Und das ist richtig so. Ein Jugendroman, der zu Herzen geht, trotz anfänglicher Schwierigkeiten beim Lesen. Ab der Mitte wird es spannend. Die Hauptfiguren sind gut gezeichnet. Charly war mir ein wenig schwach, man kann ihn nicht genau erfassen, auch das Verhältnis zu Emmi ist ein wenig oberflächlich und schwammig, der Wechsel nicht ganz klar. Lernen, sich total verändern, wenn man dafür einen Hund bekommt? An manchen Stellen liest sich das Buch chaotisch – Chaos im Kopf der Icherzählerin. Der Anfang ist extrem schwierig als Einstieg für einen Jugendroman und ich kann verstehen, wenn jemand nach ein paar Seiten aufgibt. Die Story an sich ist klasse. Bei der Dramaturgie hätte sich meiner Meinung nach die Autorin mehr am Publikum ausrichten müssen, das sie ansprechen möchte. Wenn ich als Vielleser, auch von gehobener und schwieriger Literatur, mindestens ein Viertel des Romans brauche, um mich irgendwo orientieren zu können, einzufinden, dann stimmt hier etwas nicht. Die Perspektive der Icherzählerin an sich ist gut gewählt, denn es schafft hohe Emotionalität und Figurenbezug. Aber gerade bei dieser Figur bringt es auch Schwierigkeiten, die durch eine weitere erzählende Distanz ausgehoben wäre. Der Jungbrunnen Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 13 Jahren, dem würde ich mich anschließen.
Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig «Kreatives Schreiben» und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
Chaos im Kopf
Antonia – vierzehn-dreiviertel
Jugendbuch, Jugendroman
Gebunden, 217 Seiten
Jungbrunnen Verlag, 2021
Altersempfehlung: ab 13 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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