Rezension
von Sabine Ibing
Zappenduster
Wahres aus der Unterwelt
von Hubertus Becker (Hrsg.)
Man kann Strafen als »bewusstes Zufügen eines Übels« definieren. Das beschreibt die Tätigkeit des Strafvollzugs ausgezeichnet. Man kann sich jedoch leicht ausmalen, dass das Motiv dafür, Psychologie zu studieren, ein anderes war, als anderen Menschen bewusst Schaden zuzufügen oder einer Institution beizutreten, die sich das als oberstes Ziel auf die Fahnen geschrieben hat. ... Haft bewirkt im günstigten Fall gar nichts. Doch in der Regel entwurzelt sie Menschen, sie traumatisiert sie, vertieft den Graben zwischen Täter und Gesellschaft (indem die Gesellschaft sich ebenfalls zum Täter macht), verroht die Menschen, laugt sie aus, verbittert sie … (Ingo Flam – Die Wahl der Mittel)
Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. »Die Wahl der Mittel« von Ingo Flam hat mich beeindruckt. Eine inhaltlich, intellektuelle Debatte über Schuld und Sühne, über das Bestrafen an sich, über Menschlichkeit. Was wie zu bestrafen ist, wird von der sozialen Gruppe bestimmt. Schon die Römer waren so schlau, nur ihre Verwaltungsgesetze in die Kolonien zu bringen, den Stammeshäuptlingen das Stammesrecht zu belassen, die Bestrafung von Delinquenten. Jede Gruppe hat eigene Gesetze, was hier verboten, ist dort erlaubt, hier wird die Hand abgehackt, dort wird man eingekerkert. Ingo Flam spricht von Regelbrechern, die doch selbst entscheiden können, ob sie in der Spur laufen oder nicht und von Optionen, die vielleicht ein anderer nicht nachvollziehen kann. Ich an deiner Stelle ... wenn du ich wärest, in meiner Haut stecken würdest, dann hättest du das Gleiche getan. Du bist nicht ich. Wer im Knast als Sozialarbeiter oder Psychologe arbeitet, weiß, dass er letztendlich den lieben Tag lang belogen wird. Diese Mitarbeiter öffnen Türen, entscheiden über Berufsausbildung, Arbeit, Freigang, Haftlockerung, Bewährung usw. Wer brav mitmacht, zu Therapiegesprächen geht, erklärt, wie leid ihm alles tut, der erhält Hafterleichterung. Wer ehrlich sagt: Leckt mich. Kein Interesse an Gesprächen, der bekommt rein gar nichts. Letztendlich zählt hier hohe Schauspielkunst. Sozialarbeiter und Psychologen sind nicht scharf auf diesen Job. Allerdings wird er gut bezahlt und er hat geregelte Arbeitszeit, es gibt keine Überstunden. Wer hier arbeitet, hat sein Studium falsch verstanden – da gebe ich dem Autoren Recht, der ist letztendlich ein Verräter seiner Berufsgruppe.
In der Regel begehen Menschen Taten, die sie mit sich selbst ausmachen, die sie zum Tatzeitpunkt vor sich vertreten können (sonst begingen sie die Taten nicht). Selbst wenn man eine Tat später kritisch bewertet, so weiss man doch, dass man es zum Zeitpunkt der Tat anders empfunden / bewertet hat. (Ingo Flam – Die Wahl der Mittel)
Was auch immer einen dazu getrieben hat, Unreife, Bildung, Situation, in die man hineingerät usw. – der Täter weiss, was er tut. Und Flam ist der Meinung, Reue kann nur bedeuten, dass man bedauert, zu der Zeit es nicht besser gewusst zu haben oder eben aus diversen Gründen nicht anders handeln konnte. Aber man könne per se nicht Straftätern unterstellen, schlechte Menschen zu sein. Darüber kann man sicher in dem ein oder anderen Fall diskutieren und Flam, der Gefängnisse für ein Übel hält, gibt gleichzeitig zu, dass es Straftäter gibt, vor denen man die Gesellschaft schützen muss. In den Niederlanden gibt es heute neue Wege für sogenannte »Eierdiebe« neben dem Knast: Fußfesseln, man darf in seiner Wohnung bleiben, Ausbildung und Fortbildung gehören zum Programm, Drogentherapien. Das scheint sich wirklich zu bewähren. Knast macht dich nicht zum besseren Menschen – soweit sollten wir uns einig sein. Knast macht depressiv und entfremdet die Insassen von der Gesellschaft. Und der Umgang dort ist sicherlich nicht förderlich, sich zu bessern. Die Gesellschaft bestraft. Drogendelikte werden hart bestraft. Ich frage mich seit langem warum. Liest man diesen Band, zieht sich das Drogenmilieu durch das Buch. Haben wir dem wirklich nichts anderes entgegenzusetzen als Gefängnis?
Diagonal in die Ecke gestempelt: Fluchtgefahr! Ich wurde zu 15 Jahren verurteilt und habe erst drei abgesessen. Wer will meinen Bewachern da verdenken, dass sie misstrauisch sind? - ...wo man sie mit der sogenannten Beton-Spritzen-Therapie behandelt hat. Dapotum, Haloperidol, Leponex, Medikamente wie Stahlnägel ins Hirn getrieben. (Hubertus Becker – Unterwegs in der grünen Minna)
Und immer wieder Gewaltanwendung an Gefangenen durch Psychopharmaka. Auch das zieht sich durch das Buch. Ich kann nicht bewerten, ob Ruhigstellung von Gefangenen durch Psychopharmaka in diesem Maße ausgeübt wird, aber jedes Fehlverhalten der Insassen im Knast wird hart bestraft. Das ist Fakt. Vergünstigungen werden gestrichen, Isolierungshaft und dergleichen sind usus. Wie gesagt, die Geschichte »Die Wahl der Mittel« fand ich klasse. »So, als wär ich deine große Liebe« von Sabine Theißen hat mich tief berührt, und fast zum Würgen gebracht, ich hatte diesen Geruch in der Nase … Eine authentische Episode aus dem Drogen-Nuttenmillieu. Ansonsten sind die Erzählungen gut lesbar, in Ordnung, aber es sind eben banale Knackigeschichten, nichts Weltbewegendes. Zu dem Thema habe ich schon bessere Literatur gelesen. Zur Diskussion um Schuld und Sühne und den Sinn von Gefängnissen taugt nur die erste Geschichte.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen