Rezension
von Sabine Ibing
Wolgakinder
von Gusel Jachina
Gesprochen von: Frank Arnold
Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 18 Std. und 7 Min.
Konnte eine Welt, die so greifbar und voller Gerüche, so gegenständlich wie immer war, für eine bestimmte Zeit ihre Festigkeit verlieren und zu einem bodenlosen Sumpf werden? Oder hatte er sich das alles nur eingebildet?
In der Weite der Steppe am Unterlauf der Wolga siedelten sich seit dem achtzehnten Jahrhundert Deutsche an, angeworben von Katharina der Großen. 1916 ist Jakob Bach in dem kleinen Dorf Gnadental als Schulmeister angestellt. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er sich in Klara verliebt, eine Bauerntochter vom anderen Ufer der Wolga. Die politischen Umwälzungen Russlands nach dem Ersten Weltkrieg, die Revolution und die Gründung der Deutschen Republik an der Wolga, bringt viel Veränderung in das gewohnte Leben.
Das Leben in völliger Einsamkeit
Gusel Jachinas Roman «Suleika öffnet die Augen», der die Enteignung von Millionen von wohlhabenden Bauern (Kosaken) unter der Diktatur Stalins und ihre Verbannung nach Sibirien beschreibt, hatte mir gut gefallen – insbesondere die fein beschriebenen geschichtlichen Hintergründe. Ähnliches hatte ich von diesem Roman erwartet. Doch ich wurde enttäuscht. Historisches wird eher am Rand definiert, dieser Roman dreht sich ausschließlich um den Lehrer Bach, seine Liebe zu Klara und im weiteren Verlauf sein Leben mit Anna, dem Kind von Klara. Märchen, Legenden und Mystisches begleiten die ausschweifende Geschichte. Klara wohnt auf der anderen Seite der Wolga auf einem großen, versteckten Gehöft. Das Paar wohnt hier nach dem Umbruch völlig zurückgezogen. Klara wird vergewaltigt, und als die kleine Anna geboren wird, stirbt die Mutter kurz nach der Geburt. Jakob Bach beschießt in seiner Sprachlosigkeit über sein Leid, seine Sprache einzustellen, Anna auf dem Gehöft großzuziehen – so wächst Anna ohne Sprache auf, ohne Kontakt zu anderen Menschen. Für mich war die Geschichte teils abstrus und stellenweise recht kitschig. Denn sobald Bach in das Dorf Gnadental hinüberfährt, findet er seine Sprache wieder. Der Lehrer, der so viel wert auf Bildung legt, fragte ich mich, spricht nicht mit dem Mädchen, unterrichtet sie nicht?
Zu wenig Historisches
Bach riss den Hemdkragen auf, entblößte die schmächtige Brust, warf den Kopf zurück und öffnete den Mund. Ströme von Wasser klatschten auf seinen Körper, umspülten ihn ganz und gar, die Füße spürten, wie die Erde bei jedem Donnerschlag erbebte. Blitze – gelbe, blaue und schwarz-violette zuckten immer schneller herab – über seinem Kopf oder tief in seinem Inneren. Das Brodeln in seinen Muskeln steigerte sich zu solcher Heftigkeit, das ihm war, als müsste der nächste Schlag vom Himmel seinen Körper in tausend winzige Stücke zerfetzen und in der Steppe verstreuen.
Der Bürgerkrieg, Hungersnöte, Zwangskollektivierung in Kolchosen und der sogenannte «Große Terror», der Millionen Menschen das Leben kostete, spielt zwar am Rande eine Rolle, doch leider wird das Ausmaß nicht deutlich. Die Wolgadeutschen sollten unter Katharina der Großen die Steppe urbar machen und die Tataren abwehren. Sie besaßen im Gegenzug Sonderprivilegien, wie den Erhalt ihrer Muttersprache, einschließlich der Verwaltungssprache, administrative Autonomie usw., konnten so über zwei Jahrhunderte hinweg ihre Sprache, Bräuche, Märchen, Sagen und Sprichwörter bewahren. Selbst Lenin war beeindruckt von den fleißigen Menschen, den bunten, sauberen Dörfern. Auch Stalin, der eben diese Privilegien kippte, bekommt im Roman einen kleinen Nebenstrang – er besucht zufällig sogar Gnadental. Wenn man den Hintergrund kennt, versteht man die Anspielungen, die Zusammenhänge, sonst nicht. Wir sind als Leser bei Stalin, in seinen Ideen. Zum Beispiel als er sich ewig lang beschrieben beim Billardspiel seine strategischen Gedanken macht, Hitler zu besiegen.
Zu episch angelegt
Bildreich, poetisch, mit allen Sinnen wahrnehmend geschrieben, doch sehr breit gewalzt, war mir die Geschichte der totalen Abgeschiedenheit von Bach und seinen beiden Frauen nicht dicht genug an der Historie. Die wirkliche Macht, die die Menschen terrorisierte, abschlachtete, kommt nicht durch. 1941, nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion wurden auf Stalins Befehl etwa 400.000 Wolgadeutsche, unter dem Deckmantel, sie seien Kollaborateure, nach Sibirien und Zentralasien zwangsumgesiedelt. Das kommt nicht vor. Diese Geschichte hatte ich erwartet ... Der Protagonist Bach hat mich persönlich eher genervt; die Geschichte konnte mich nicht berühren, sie war mir zu märchenhaft, zu unlogisch in vielen Teilen. Ein realer historischer Hintergrund, der gespickt ist mit surrealen Komponenten. So sehr mir die «Suleika» gefallen hat, so wenig nun der Herr Bach und Gnadental. Meine Erwartung tendierte zu einem historischen Roman – was ansatzweise erfüllt wurde – mutierte für mich zu einer breitgewalzten Story, die ich nicht wirklich zuordnen kann.
Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan (Tatarstan), russische Autorin und Filmemacherin tatarischer Abstammung, studierte an der Kasaner Staatlichen Pädagogischen Hochschule Germanistik und Anglistik und absolvierte die Moskauer Filmhochschule. Ihr erster Roman Suleika öffnet die Augen wurde in 31 Sprachen übersetzt. Mit Wolgakinder, bisher in 14 Sprachen übersetzt, legt die international erfolgreiche Autorin ihren zweiten Roman vor. Gusel Jachina lebt mit ihrer Familie in Moskau.
Wolgakinder
Gesprochen von: Frank Arnold
Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 18 Std. und 7 Min.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Audible Studios, 2019
Aufbau Verlag, 591 Seiten, 2019
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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