Rezension
von Sabine Ibing
Wer ist Edward Moon?
von Sarah Crossan
Der Anfang:
Das grüne Telefon
an der Wand im Flur
klingelt fast nie.
Jeder, der Mom sprechen wollte, rief auf dem Handy an.
Genau wie bei Angela.
Ich lausche dem Gebimmel ein paar Sekunden,
bevor ich abnahm.
‹Hallo?›
Es war Ed. …
Mein großer Bruder seufzte nochmal.
‹Bin verhaftet worden, Joe.
Die glauben, ich hätte was Schlimmes getan.»
Dead man walking für Jugendliche. Joe war sieben Jahre alt, als sein Bruder, damals achtzehn, zum Tode verurteilt wurde. Seit zehn Jahren sitzt Ed in der Todeszelle, das Datum seiner Hinrichtung steht fest. Ed sagt, er hat den Polizisten nicht erschossen, aber das und vieles mehr zählte nicht vor Gericht, denn Ed ist in armen Verhältnissen aufgewachsen: Der Vater ist verstorben, die Mutter eine Säuferin, prekäre Familienverhältnisse und Wohnsiedlung, kein Geld für einen guten Anwalt und schon gar nicht für die Berufung. Joe hat Ed seit dieser Zeit nicht gesehen, aber er spürt, sein Bruder ist unschuldig und er war es doch, der sich nach Vaters Tod um Joe gekümmert hatte, damals. Es sind Ferien, und darum beschließt Joe, seinem Bruder die letzten Wochen beiseitezustehen, egal, was andere Leute denken. Er fährt von New York nach Texas, mietet sich eine heruntergekommene Bude und sucht nach einem Job. Nachmittags besucht er Ed. Ein kleiner Hoffnungsfunken wird vom Anwalt eingestreut – drei Möglichkeiten: Wiederaufnahme des Verfahrens, der hohe Gerichtshof und das Gnadengesuch des Gouverneurs. Und dann lernt Joe Nell kennen, die ihm beiseitesteht in dieser Situation. Die Tante, die Schwester, in Kommunikation – eine Mutter, die die Familie verlassen hat – eine schwierige Familiensituation.
Ein Drama, das letztendlich das amerikanische Rechtssystem anklagt, bei dem immer nur der gewinnen kann, der Geld besitzt. Was ist Gerechtigkeit, wer entscheidet über Leben und Tod? Wie einfach kann man es sich machen, einen Menschen zu beurteilen, verurteilen, ihn zum Tode zu verurteilen? 10 Jahre hoffen und Bangen in der Todeszelle. Der Tag der Hinrichtung steht nicht fest, den bekommt man vier Wochen vorher mitgeteilt – ein unmenschliches System. Aber hier geht es um Joe, den Bruder, was dieses Urteil aus ihm macht.
Interessant ist Form, den Text zu gestalten. Man muss sich beim Lesen darauf einlassen, dann kommt man schnell hinein. Als offene lyrische Textform könnte man das ganze beschreiben, denn an manchen Stellen wirkt der Text auch so. In diesen Abschnitten ist der Roman ziemlich stark. Die Briefe von Ed an Joe lassen den Leser nach Luft schnappen. An anderen Stellen ist der Text schlicht ein gebrochner Satz, Denkpausen, Atempausen, Lesepausen. Manchmal hätte ich mir lieber fließende Zeilen gewünscht. Aber wie gesagt, insgesamt ist das Experiment geglückt, wenn man sich darauf einlässt – und an den starken Stellen möchte ich diese Form nicht missen. Ein Buch, das aufwühlt, nach Gerechtigkeit schreit – ein brillantes Thema. Authentisch, empathisch schreibt Sarah Crossan diese Geschichte nieder, selbst in der Lovestory ist kein Kitsch zu spüren – eine Liebe auf Zeit, das ist von Anfang klar, ein Trostpflaster, ein Mensch der Kraft gibt. Sie haben meinen Bruder nach Erwachsenenstrafrecht angeklagt, ihn zum Tode verurteilt, merkt Joe an, drei Jahre bevor man ihn für reif hielt, ein Bier zu trinken (in den USA erst ab 21 erlaubt). Wir kennen nur Joes Perspektive. Aber das ist kein Manko, im Gegenteil. Der Mixtvision Verlag hat eine Altersangabe von 14 Jahren angegeben. Das ist sinnvoll, da dieser Roman an die Nieren geht und ein gewisses Rechtsverständnis voraussetzt, damit man versteht, mit europäischen Systemen vergleichen kann. Ich empfehle das Buch als Schullektüre, zunächst als Thema aber auch als Textexperiment. Allage - natürlich!
Sarah Crossan wuchs in Irland und England auf. Vor ihrer Ausbildung zur Lehrerin für Englisch und Theater in Cambridge studierte sie Philosophie und Literatur. Seit ihrem Abschluss kümmert sie sich um die Förderung von kreativem Schreiben an Schulen. Für ihre Werke wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit der renommierten Carnegie Medal. Bereits zweifach war sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Sarah wohnt mit ihrer Familie in Hertfordshire.
Sarah Crossan
Wer ist Edward Moon?
Original: Moonrise
Übersetzt aus dem Englischen von Cordula Setsman
Jugendbuch ab 14 Jahren
Mixtvision, gebunden, 2019, 400 Seiten
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