Rezension
von Sabine Ibing
Wenn die Nacht endet
von Christoffer Carlsson
Der Anfang:
Sie glaubte an die Wahrheit, vielleicht sogar an die Wahrheit um jeden Preis. Dieser Glaube hatte sie zum Polizeiberuf geführt, der sie jetzt wiederum nach Skavböke führte. So kann man es wohl sehen. Manche Dinge im Leben sind so einfach.Andere können deutlich komplizierter sein.
In dem kleinen, abgelegenen Ort Skavböke in der Region Halland feiert Ende der 1990er eine Gruppe Jugendlicher das Ende der Schulzeit, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Doch diese Nacht verändert alles: Nach dieser Party wird einer von ihnen, Mikael, erschlagen aufgefunden. Bei einer anderen Familie im Ort wird eingebrochen und viel Geld gestohlen. Als ein weiterer Junge sein Leben verliert, verlässt dessen bester Freund, Sander, das Dorf. Zwanzig Jahre später kehrt Sander zurück nach Skavböke. Mikaels Bruder wird tot aufgefunden. Vidar Jörgensson von der Polizei sucht nach dem Schuldigen, holt sich die alten Akten heraus. In kurzer Zeit war viel passiert: Morde ein Erdrutsch, Dinge, die nicht wirklich aufgeklärt wurden. Anscheinend hängt das eine mit dem anderen zusammen.
Was ist aus den Jugendlichen von damals geworden?
Im Lauf des Lebens legt man sich aus dem Nichts heraus vermeintliche Wegbegleiter zu und verletzt sie so sehr, dass sie sich immer weiter zurückzuziehen, bis sie irgendwann komplett verschwunden sind. Kreis geschlossen: das Leben genauso inhaltslos wie zu Beginn.
Der 18-jährigen Mikael, der in einem Auto aufgefunden wird, erschlagen mit einem Spaten. Seine Freunde Sander und Killian werden verdächtigt. Wessen Blut klebt auf dem Lenkrad? Und auch Kilian ist kurz darauf tot; und ein Erdrutsch lässt weitere Menschen sterben. Sander, der von der Großstadt Stockholm träumt, dort Jura studieren will; raus aus dem beengten Dorf. Kilian, der Bodenständige, der geschickte Handwerker ist mit dem Dorf zufrieden. 20 Jahre später liegt Mikaels jüngerer Bruder Filip auf einer Wiese, mit einer Axt erschlagen. Gerd Pettersson und Siri Bengsson von der Polizeiwache Oskarström ermittelten damals – Siri war ganz neu im Ort. Stück für Stück wird im Rückblick aufgedeckt, wie die Verhältnisse zwischen den einzelnen Jugendlichen waren, wer mit wem befreundet war, wer wen nicht leiden konnte; wohlhabende Familien, arme Familien. Dabei gibt es manch Geheimnis aufzudecken, einige Wendungen und Wechsel der Perspektive geben die Spannung. Heute ermittelt Vidar Jörgensson im neuen Fall – doch die Vergangenheit ist sehr präsent. Gerd ist verstorben und Siri arbeitet nicht mehr bei der Polizei; Vidar muss sich auf die Aufzeichnungen verlassen, und auf Zeugen, die nach 20 Jahren noch greifbar sind. Was ist aus den Jugendlichen von damals geworden? Der versoffene Pfarrer Isidor Enoksson und Siri wissen mehr, als sie zugeben, da ist sich Vidar Jörgensson sicher. Der Verdacht liegt ihm nahe, dass die Ermittler damals nicht alles wissen wollten, oder zu viel wussten, dies alles nicht niederschreiben wollten. Die Sache ruhen lassen. Sander ist zurückgekehrt, weil Killians Vater beerdigt wird und er ihn sehr mochte. Es ist kein typischer Krimi, die Ermittler hält der Autor im Hintergrund – es geht um die Jugendlichen, um das, was sie bewegt, was das alles aus ihnen macht. Die wollen nämlich selbst verstehen, was passiert ist. Coming of Age – die Schule ist beendet, Freundschaft, Hass, Liebe und Verrat, Gewalt – der Stoff aus dem gute Romane geschmiedet sind.
Psychologisch gut ausgeleuchtet
Ihm war klar, dass die Dinge von nun an nicht mehr so sein würden, wie sie es einmal gewesen waren, und dass er, genau in diesem Augenblick, seinem besten Freund den Tod wünschte.
Christoffer Carlsson schreibt atmosphärisch, und bildreich, nimmt uns mit in Nebel, Matsch und Wald, in Dialoge von Jugendlichen, mitten ins Dorfgeschehen. Er skizziert Familien, blättert seine Charaktere weit auf, nimmt ihre Perspektiven ein. Die vielen Wendungen ziehen in die Geschichte hinein, entwickeln einen Sog, die Spannung entsteht aus den Figuren heraus. Einige müssen mit Schuld weiterleben, andere mit Schmerz und manch einer mit beidem. Hätte man gewusst, hätte man … Die Erklärung der Ereignisse von damals haben viele nicht losgelassen, denn diese haben sie nicht geglaubt. Das Leben geht weiter, aber die Geschehnisse haben einiges verändert, Verlust und Betroffenheit hat einige Menschen verändert. Literarisch und atmosphärisch dicht geschrieben, dicht an den Figuren, an ihren Hoffnungen, an der ersten Liebe, an dem Unglück, das Familien in den Abgrund reißt, ist dieser literarische Kriminalroman psychologisch gut ausgeleuchtet, auch interessant für Nichtkrimileser. Für das Buch gab es den Schwedischer Krimipreis 2023 – mit Recht. Ein literarischer Krimi, der beeindruckt.
«Die simpelste Definition, die man in Skavböke kennt, was Menschsein bedeutet: den Sinn in anderen finden. Und wenn das nicht mehr möglich ist, weil andere weggehen oder von einem genommen werden, passiert es leicht, dass man verloren geht.»
Christoffer Carlsson, geboren 1986, wuchs außerhalb von Marbäck an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm und wurde 2012 mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman «Der Turm der toten Seelen» erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Die Reihe um den Polizisten Leo Junker erscheint in zwanzig Ländern und wird verfilmt.
Wenn die Nacht endet
Originaltitel: Levande och döda
Aus dem Schwedischen übersetzt von Ulla Ackermann
Krimi, Literarischer Krimi, Kriminalroman, Kriminalliteratur, Schwedische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 464 Seiten
Kindler Verlag, Rowohlt, 2024

Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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