Rezension
von Sabine Ibing
Was Nina wusste
von David Grossman
Gesprochen von Julia Nachtmann und Maria Hartmann
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. und 29 Min.
Der Anfang:
Rafael war fünfzehn, als seine Mutter starb und ihn von ihrem Leiden erlöste. Es regnete. Auf dem kleinen Friedhof drängten sich die Kibbuzmitglieder unter Schirmen. Tuvia, Rafaels Vater, weinte hemmungslos. Jahrelang hatte er seine Frau hingebungsvoll gepflegt. Jetzt wirkte er verloren und verwaist.
Vera, ihre Tochter Nina und ihre Enkelin Gili, beschließen an Veras 90. Geburtstag eine Reise zu machen, um Veras Spuren zu folgen, ihren Heimatort in Kroatien, wo sie ihren ersten Mann kennenlernte, seinen Heimatort, eben auch Ninas Kindheit – bis hin zur Gefängnisinsel Goli Otok, auf der Vera als Staatsverräterin unter Tito einige Jahre gefangen war. Gili und ihr Vater, Ninas Mann, werden alles filmen. Nina hasst Vera, weil sie meint, die Mutter sei schuld, dass sie ihre sechseinhalbjährige Tochter einem ungewissen Schicksal überließ, das in Obdachlosigkeit endete. Aber bis wir endlich an diesen Kern der Geschichte angelangt sind, die Reise von Israel aus startet, ist das halbe Buch durchgelesen. Einerseits fand ich die Geschichte interessant, und es war mir auch nicht bewusst, dass es unter Tito Gulags gegeben hat. Andererseits hat mich die Protagonistin Vera genervt, die ausufernd, theatralisch egozentrisch und ihren ersten Mann Miloš anbetend schwätzt – das war maßlos kitschig und schwülstig. Und überhaupt zog sich der Roman, hatte mir viel zu viele Längen. Das große Geheimnis war letztendlich keins, was mich auch enttäuschte – es ging eigentlich nur ums wie. Weniger Drama und Dauerbeschallung der Liebe, das in Szene setzen der eigenen Person von Vera, das ganze gekürzt, hätte ein guter Roman werden können. Nur leider hielt er sich nicht mal an die historischen Rahmenbedingungen. Ich hatte immer einen Finger an der Ausschalttaste, habe mich dann irgendwie durchgequält wegen des realen Stoffs. Interessant ist die Figur Vera, die beinhart alles durchzieht, oft eiskalt, egoistisch, gern im Mittelpunkt stehend, die aber dann wieder Warmherzigkeit zeigt und eine, nennen wir es Affenliebe, zu ihrem ersten Mann zeigt.
Zwei Hochzeiten
Nina hatte die Hände in die Hüften gestemmt, das harte Mädchen von der Straße kam durch, das wilde Tier. Ihre Nasenlöcher weiteten sich, sie roch ihn, Rafael sah das Pochen einer feinen bläulichen Ader an ihrem Hals, und plötzlich taten ihm die Lippen weh, so hat er’s mir erzählt, sie brannten richtig vor Durst.
Okay, hab’s kapiert, dachte ich, die Details kannste mir ersparen.
Auf Ninas Wange glitzerten noch Tränen, aber ihre Augen waren kalt gewesen, fast wie die einer Schlange. ‹Geh nach Hause, Jüngelchen›, hatte sie gesagt, doch er schüttelte den Kopf, nein, nein, und sie näherte ihre Stirn langsam seinem Kopf, schob sie etwas vor, etwas zurück, als suche sie einen ganz bestimmten Punkt, und er schloss die Augen, und sie stieß ihn mit der Stirn, und er flog hintenüber in die Kuhle eines Avocadobaums.»
Alles beginnt in Israel. Als Rafael fünfzehn ist, stirbt seine Mutter. Ein Trauma für ihn; und irgendwann trifft er im Kibbuz auf die wenige Jahre ältere Nina, verliebt sich in sie. Aber sie weist ihn schroff ab. Eine derbe, unnahbare, unterkühlte junge Frau, die alle vor den Kopf stößt. Plötzlich ist sie ins Ausland verschwunden. Zur gleichen Zeit trifft Tuvia, Rafaels Vater, auf Vera. Die beiden Verwitweten heiraten. Vera wird herzlich in der Familie aufgenommen und lebenslang von allen Familienmitgliedern hoch verehrt. Nur nicht von Nina, die sich zeitlebens fernhält. Doch Rafael lässt damals nicht locker und schafft es, Nina, die irgendwann zurückkehrt, zu erobern, sie zu heiraten. Doch schon bald verlässt sie Rafael und Gili, die zu der Zeit drei Jahre ist. Nina bleibt verschwunden, hin und wieder hat sie Kontakt zu Rafael, sie lebt in New York und später in der Arktis. Rafael liebt Nina noch immer, mit der gleichen Affenliebe wie Vera Miloš. Gili arbeitet in der Filmbranche, so wie auch ihr Vater. Sie ist die Erzählerin dieser Geschichte, weil sie alles über ihre Familie wissen will. Rafael hat ihr vieles anvertraut – über Nina, die ewigen Verletzungen. Nina, die im Ausland lebt, hat extrem viele Männerbekanntschaften, bis hin zu einer nymphomanischen Phase. Gili versteht nicht, warum Rafael sie immer noch zurückhaben will – sie selbst hasst ihre Mutter, die sie sitzengelassen hat.
Tuvia zögerte. Vera hatte etwas, das eindeutig nicht von hier war. Immer, in jeder Situation, trug sie Lippenstift und Ohrringe. Ihr Akzent war stark, ihr Hebräisch merkwürdig (das ist bis heute so, niemand sonst spricht so wie sie), und sogar ihre Stimme klang in seinen Ohren nach Exil.
Das dokumentarische Filprojekt
Nina: Meinen wahren Charakter haben sie mir genommen, als ich sechseinhalb war, und sie haben ihn mir nach drei Jahren verdorben zurückgegeben. Kaputt... Denn ich erinnere mich noch, wer ich davor war, was für ein Mädchen ich gewesen bin.
Gili: Sie umklammert mich, diese Frau, die mich vor sechsunddreißig Jahren aus ihrem Leben geschnitten hat, sie hat mich abgetrieben, es war wirklich eine Abtreibung, wenn auch mit der netten Verspätung von dreieinhalb Jahren, denn ich war ja bereits auf der Welt, die arme Gili war ja schon geboren.
Das ist nicht Eva Panic-Nahirs Geschichte
Die Geschichte hat einen wahren Hintergrund, denn es ist in etwa die der Eva Panic-Nahir, eine in Jugoslawien hoch angesehene Frau, die fast drei Jahre auf der Gefängnisinsel Goli Otok eingesperrt war. Im Jahr 2002 erzählte sie ihre Lebensgeschichte in einem israelischen Dokumentarfilm «Eva – a documentary», reiste gemeinsam mit ihrer Tochter Tijana in Frauenlager Goli Otok, erklärt dabei ihre Lebensgeschichte. Im Romans gibt es ein wenig Geschichtliches, als die jüdische Kroatin Vera 1936 im Alter von 18 Jahren den viel älteren Serben Miloš Novak heiratet; schon damals gab es Schwierigkeiten zwischen Serben und Kroaten, Antisemitismus. Dann kommt der Deutschen Überfall auf das jugoslawische Königreich, die Shoa, der nationalsozialistische Judenmord ist nur kurz angedeutet. Vera ist die Tochter ungarischer Juden, ihre Familie wurde später in Auschwitz ermordet. Es gibt eine pikante Szene: als Miloš Vera heiraten will rät der Rabbi dem Vater, zuzustimmen; der Hitler sei nicht weit, und vielleicht überlebt nur diese eine Tochter, weil sie den Kommandanten Miloš heiraten darf. Nachdem Vera aus dem Gulag freigelassen wurde, wandern sie ihrer Tochter nach Israel aus. Im Groben ist das sicherlich die Geschichte der Eva Panic-Nahir, aber der Autor hat sich eben nur im Groben an den Lebenslauf gehalten. Drum würde ich keine charakteristischen Parallelen ziehen. Wie gesagt, grundsätzlich fand ich die Geschichte interessant, doch die pathetische Tonalität hat mich extrem gestört, die Längen, Wiederholungen, die sich stets im Szenischen verlieren. Eva Panic-Nahir heiratete einen gutaussehenden jungen Mann – Miloš ist alt, hässlich und krank. Während der Besatzung Jugoslawiens schlossen sich Eva und Rade Panić der Partisanenbewegung an, und dann in Belgrad und der BI-Organisation; und Rade war bei der Kavallerie, später Ausbilder, nicht Kommandant. Das ist der weiße Fleck im Roman: die Partisanenbewegung. Nach Kriegsende, während des Konflikts zwischen Tito und Stalin, wurde Rade Panić mehrmals verhaftet und beging im Oktober 1951 in einem Gefängnis in Belgrad Selbstmord. Im Roman wird er nur einmal verhaftet, und wie Eva wurde Vera nach Goli Otok gebracht. Es gibt eine Menge Abweichungen. Schade. Ich hätte gern etwas von der echten Figur Eva gelesen, die 14 Jahre nach dem Tod ihres Mannes Akteneinsicht erlangte, in der die Unschuld eindeutig dokumentiert war. Vera schreibt mehrfach Tito an, bittet ihn, ihren toten Mann in die Heimat umbetten zu lassen. Irgendwann erlaubt es Tito, wenn sie ihn selbst ausgräbt, soll sie es machen. Und Vera gräbt das Grab mit den Händen aus – erkennt ihn sofort an den Zähnen, ist glücklich, Miloš bei sich zu haben. Diese Theatralik meine ich – denn dann folgt wieder der Lobgesang auf den Mann und Liebe in Wiederholungsschleife.
Was soll ich als Leser glauben?
Ich bin zwiegespalten mit dem Roman und enttäuscht. David Grossman nimmt sich eine historische Person für die Geschichte, historische Ereignisse, die nicht sehr bekannt sind: die Gulags von Stalin. Das ist hervorragend. Leider pumpt der Autor die reale Figur auf wie einen Wasserball, etwas, was Eva meiner Meinung nach nicht verdient hat. Einige für mich historisch wichtige Ereignisse fallen heraus, dafür beginnt der Roman eigentlich richtig erst in der Mitte. Leider ist ziemlich viel um die reale Person vom Autor erfunden worden, historisch falsch wiedergegeben, so dass ich den Stoff nicht ernst nehmen kann – Reales ist nachzugoogeln. Literarisch ist dieser Roman für mich pathetischer Kitsch, der mich einige Nerven gekostet hat. Am Ende wurde ich enttäuscht – man wartet die ganze Zeit auf das große Geheimnis – es ist gar keins – alles ist längst bekannt – das Warum hat ein logisch denkender Mensch schon bald begriffen. Alles wegen der Affenliebe! Historisch wird erwähnt, dass Eva erst ein gutes halbes Jahr nach dem Tod ihres Mannes mit einer ganzen Reihe von Frauen verhaftet wird (Vera allein und gleich am Tag nach seinem Tod). Insofern ist sogar dieser wichtige Teil falsch – und genau deshalb kann ich nicht glauben, dass Eva aus dem besagten Grund verhaftet wird und in den Gulag muss: Siehe bei Interesse weiter unten unter Spoiler. Ich frage mich, was denkt sich ein Autor, wenn er einen historischen Stoff nimmt – mit der betroffenen Person sogar sprechen kann, Tondokumente vorliegen – die ganze Geschichte so dermaßen verfälscht! Was soll ich als Leser glauben?
ACHTUNG SPOILER! ACHTUNG SPOILER! ACHTUNG SPOILER!
Vera wird am verhaftet, soll unterschreiben, dass ihr Mann, der ja nun tot ist, ein Vaterlandsverräter war, ein Stalinist. Wenn sie unterschreibt, kann sie nach Hause gehen. Unterschreibt sie nicht, muss sie für lange Zeit in den Gulag, ihre sechsjährige Tochter muss dann auf der Straße leben. Sie wählt aus Liebe zu Miloš den Gulag, weil sie ihn nicht verraten kann. Das hat sie Nina nie gestanden.
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Was Nina wusste
Originaltitel: Iti Ha-Chaijm Messachek Harbej
Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer
Gesprochen: Julia Nachtmann, Maria Hartmann
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. und 29 Min.
Familienroman, Entwicklungsroman, Drama, israelische Literatur
HörbucHHamburg HHV GmbH, 2020
Carl Hanser Verlag, gebunden, 352 Seiten, 2020
Kommentare
Kommentar veröffentlichen