Direkt zum Hauptbereich

Vor uns das Meer von Alan Gratz - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Vor uns das Meer 


von Alan Gratz


Der Anfang: Krach! Bum!
Josef Landau saß aufrecht im Bett, sein Herz raste wie wild. Dieses Geräusch – es hörte sich an, als hätte jemand die Wohnungstür eingetreten. Oder hatte er das nur geträumt?

Drei völlig verschiedene Geschichten, die letztendlich das Gleiche erzählen: Drei Kinder mit ihren Familien auf der Flucht aus ihrer Heimat, in dem Vertrauen, ein besseres Leben zu finden. Niemand flieht freiwillig und lässt alles, was ihm lieb ist, zurück. Drei Jahrzehnte, drei Mal Hoffnung. Der jüdische Junge Josef ist 11 Jahre alt, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba, Hunger und Armut lassen den Vater gegen Castro demonstrieren – und nun bleibt nur noch die Flucht in einer Walnussschale Richtung Miami. Der 12-jährige Mahmoud wird im Jahr 2015 nach einem Bombenangriff obdachlos und die Familie verlässt das zerbombte Aleppo, um nach Deutschland zu gelangen. Ein Buch, das zwischendurch die Luft zum Atmen nimmt.

Drei Kinder, drei Länder 

Isabel Fernandez brauchte nur zwei Versuche, um das magere, buntgescheckte Kätzchen unter dem rosafarbenen Betonziegelhaus hervorzulocken und es aus ihrer Hand ressen zu lassen. Das Kätzchen war hungrig, so wie alle in Kuba …

Die drei Geschichten werden parallel erzählt. Kurze Kapitel, die je mit einem Cliffhanger enden, mit schwierigen Situationen. Das macht das Buch ziemlich spannend.

Obwohl ihre Wohnung nicht weit weg war (von der Schule), nahmen Mahmoud und Walid jeden Tag einen anderen Tag nach Hause. Manchmal gingen sie durch Seitengassen – auf den Straßen hielten sich oft Kämpfer der Armee auf, die wiederum Angriffsziel der Rebellen waren. Außerdem waren zerbombte Häuser gut, um sich zu verstecken.

Auf der Flucht in ein besseres Leben

1938, Berlin: Es beginnt mit der Reichskristallnacht. Josef Vater ist ein angesehener Anwalt. Doch als Jude landet er wegen einer Geringfügigkeit zur Strafe für kurze Zeit in einem Konzentrationslager. Die Regierung erlaubt plötzlich, dass Juden aus Deutschland ausreisen dürfen. Die Mutter besorgt Schiffspassagen Richtung Kuba, da der Vater entlassen werden soll. Doch nach seinem Gefängnisaufenthalt ist er psychisch krank, was die Kinder während der Reise verstört. Die Überfahrt auf der St. Louis ist für die Kinder ansonsten ein Spaß, denn endlich werden sie nicht mehr als Juden beschimpft und dranglisiert, es gibt viel Abwechselung, Partys, einen Pool. Doch auf Kuba angekommen, darf niemand von Bord gehen, auch die USA lehnt die Flüchtlinge ab, es geht zurück nach Europa, das Drama kommt hier am Ende …

1994, Havanna: Nach Auflösung der UDSSR wird Kuba nicht mehr von Russland unterstützt, genannt periodo especial. Das Castro-Regime konnte nur durch die massive Unterstützung der UDSSR überleben, die Lebensmittel, Energie usw. gratis zur Verfügung stellte. Nun herrscht Hunger und es gibt Volksaufstände, bekannt als der Maleconazo oder Habanazo. Isabel lebt mit ihrer Familie in Havanna. Ihr Vater hat bereits ein Jahr lang im Gefängnis gesessen, weil er versuchte zu flüchten. Als er bei einer Demonstration erkannt wird, weiß er, die Polizei wird ihn wieder einsperren. Am gleichen Tag wird durch das Radio verkündet: Wer Kuba verlassen will, soll es tun. Wer weiß, ob es sich Fidel nicht wieder anders überlegt, denken viele und machen sich sofort auf, Kuba zu verlassen. Ein Nachbar hat selbst ein Boot gebaut, und so fliehen die beiden Familien mit mehreren Generationen, hoffen, dass die kleine Jolle hält. Ausfall des Motors, Sturm, vom Kurs abgekommen, Haie ... es wird eine harte Fahrt.

Hier ist ein kleiner historischer Fehler, was letztendlich dem Leser egal sein soll: Bis April 1995 galt, dass jeder Kubaner in den USA automatisch Asyl erhielt. Auf Grund der Massenflucht wurde dann seitens der USA die sogenannte wet foot dry foot policy (Nasser-Fuß-Trockener-Fuß-Politik) bestimmt. Hatte jemand die Füße auf US-amerikanischen Boden gestellt, durfte er in den USA bleiben. Wer auf dem Wasser erwischt wurde – der Küstenschutz hat stark patrouilliert – wurde zur Marinebasis Guantanamo Bay gebracht und von dort nach Kuba ausgeschifft.

2015 in Aleppo: Mahmouds Familie wird durch einen Bombenangriff obdachlos, Handys, ihr Erspartes und Auto ist alles, was ihnen verbleibt. Mit dem Auto versuchen sie, in die Türkei zu gelangen. Ziemlich bald geraten sie zwischen Rebellen, das Auto wird zerschossen, sie fliehen zu Fuß weiter durch Krisengebiet. Von der Türkei aus sind sie unterwegs mit Bus und Taxi wechselnd zum Meer, warten lange auf ein Boot. Die Überfahrt nach Griechenland entwickelt sich zum schrecklichen Drama. Raub, Erpressung, mal über den Tisch gezogen, bedroht, beschimpft, geschlagen … die Flucht ist grausam.

Drei Geschichten - drei historische Ereignisse

Die Geschichten sind aus der Sicht der jeweiligen Kinder beschrieben und gehen wirklich ans Herz. Und es sei gewarnt, Verluste gibt es in jeder Familie, realitätsnah. Doch es gibt auch Hoffnung. Das Buch entwickelt durch die wechselnden kurzen Kapitel einen Sog. Trotz der verschiedenen Geschichten verliert man nie den Überblick, der Name der Protagonisten steht als Überschrift. Es gibt heftige Situationen in den Geschehnissen, die für Kinder sicher ergreifend sind – nicht nur für sie. Das Buch wird vom Hanser Verlag ab 12 Jahren empfohlen und liegt damit sicher an der der unteren Grenze. Ich empfehle eher 13 / 14 Jahre, wenn es sich um ein sensibles Kind handelt. Auf jeden Fall sollte man mit den Kindern über das Gelesene reden und sie nicht mit den Ereignissen allein lassen. Die Handlung ist nicht nur spannend, es ist historisch interessant, da es sich bei allen drei um geschichtliche Ereignisse behandelt:


  • Reichskristallnacht, die Irrfahrt der St. Louis und die Unmenschlichkeit der vielen Länder, die sich weigerten, die jüdischen Passagiere aufzunehmen. 

  • Der Maleconazo oder Habanazo, die Hungersnot auf Kuba (bedint durch den Zefall der UDSSR) mit Aufständen, der Massenflucht und der daraus resultierenden wet foot dry foot policy der USA.

  • Die Flüchtlingskatastrophe der Syrer durch den Krieg bedingt, und die Behandlung der Flüchtlinge durch die europäischen Staaten auf ihrem Weg ist uns täglich vor Augen. 

Als Schullektüre empfohlen

Das Meer ist voller toter Menschen – die Parallelen sind nicht zu übersehen. Interessant ist auch das Ende, denn hier hat Alan Gratz die Stränge verwoben. Ein historisch-aktuelles Jugendbuch, das klar punktet, emotional an die Nieren geht! Eine klare Empfehlung meinerseits für Lehrer, dieses Buch als Schullektüre einzusetzen. Thematisch ist es in diversen Fächern einsetzbar und kombinierbar als Projekt. Am Ende finden sich Landkarten, die die Fluchtrouten der Familien darstellen und so etwas wie ein Nachwort der Protagonisten.


Alan Gratz ist Autor ist ein bekannter Autor für Kinder und Jugendliche. Er wurde 1972 in Knoxville, Tennessee geboren und lebt mit seiner Frau und Tochter im westlichen North Carolina. Nach seinem erfolgreichen Kinderbuch Amy und die geheime Bibliothek (2019) erscheint mit diesem Buch das erste auf Deutsch übersetzt.


Alan Gratz 
Vor uns das Meer
Originaltitel: Refugee
Übersetzt aus dem amerikanischen Englischen von Meritxell Janina Piel
Hardcover, 299 Seiten
Hanser, 2020
Altersempfehlung: ab 12 Jahren



Kinder- und Jugendliteratur


Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! 

Kinder- und Jugendliteratur


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie

  Eine spannende Reise durch die Jahreszeiten zu Tieren und Pflanzen rund um den Globus. Das Jahr beginnt mit dem Januar – mit einem heißen Bad. In Japan baden die Japanmakaken mitten im Schnee in warmen Quellen, fühlen sich ziemlich wohl dabei. In Peru ist Paarungszeit für die Aras. Die Männchen wollen schön sein für die Damenwelt – und gehen vor der Balz für ihre Figur auf Diät: sie schlecken Schlamm. Auch in Afghanistan ist Paarungszeit mitten im Schnee für die Schneeleoparden. In der Antarktis schlüpfen Pinguine aus dem Ei. Und so geht es weiter durch das Jahr. Kleine Sachgeschichten aus der Natur ab 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie