Direkt zum Hauptbereich

Tatort Polizei von Jan Keuchel und Christina Zühlke - Rezension



Rezension

von Sabine Ibing



Tatort Polizei 


von Jan Keuchel und Christina Zühlke

Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle –  Ein Report


Insofern verstehen wir dieses Buch auch als Versuch, den sicherlich vielen guten Polizist:innen im Land zu helfen – indem wir nicht nur die Fehler im System aufzeigen, sondern auch eine Lösung dafür anbieten. Uns geht es nicht darum, die Polizei unter Generalverdacht zu stellen. Wir wollen vielmehr für ein System streiten, das das Wirken der Polizei durch unabhängige Kontrolle gegen Zweifel und Vertrauensverlust schützt.

Denn weder wir Bürger:innen noch der Großteil der Polizist:innen können ein Interesse daran haben, dass unser Verhältnis dauerhaft in Schieflage gerät – weil immer wieder ein neuer «Tatort Polizei» auftaucht.


Die Polizei, dein Freund und Helfer - so sollte es sein. Natürlich haben es Polizisten nicht leicht in ihrem Job, bei dem sie tagtäglich mit Gewalt konfrontiert sind, was in diesem Buch auch immer erwähnt wird. Geschult auf Deeskalation – verbale Attacken von sich abperlen lassen ... Doch immer häufiger werden gewalttätige Übergriffe durch Beamte öffentlich, und die Republik wird durch rassistische und rechtsradikale Chatgruppen im Polizeiumfeld erschüttert. Hat das Ganze vielleicht System und wird es innerhalb der Polizei geduldet, gedeckelt, nicht aufgearbeitet? Die Autoren gehen dem nach und recherchieren über Jahre, decken das Systemversagen auf. Was läuft schief bei der deutschen Polizei? Und was ist nötig, um die Fehler zu beheben? 


Da habe der Einzelne, sei er noch so kritisch, keine Chance. ‹Das muss man klar sagen: Nur weil es kritische Polizisten gibt, ändert das nichts am System. Das ist ein strukturelles Problem ...›


Polizist:innen, die intern kritisieren oder gar Kolleg:innen anzeigen, müssen mit Schikane und Mobbing rechnen, auch durch die Vorgesetzten! Opfer von Polizeigewalt bleiben derweil auf sich allein gestellt, es fehlt an unabhängigen Ermittlungseinheiten. Denn sie müssen sich ja mit ihrer Anzeige an die Polizei oder Staatsanwalt wenden. Oft genug erhalten diese Opfer obendrauf eine Anzeige von Polizisten wegen Beamtenbeleidigung oder Körperverletzung – nur weil sie versuchten, sich der Angriffe zu wehren. Ein Innenminister, der zu einer Reform des Systems bereit ist, müsste schon ordentlich cojones mitbringen. Jan Keuchel und Christina Zühlke haben mehrere Jahre für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und das Handelsblatt recherchiert. Aus diesen Reportagen ist dieser Band entstanden – ebenso in Reportagenform aufgebaut. Das Buch ist ein Plädoyer für eine Systemreform in Deutschland, um die vielen anständigen Polizist:innen vor jenen Kolleg:innen zu schützen, die den Ruf einer der wichtigsten Institutionen unseres Staates schleichend zerstören.


Darauf sagte der Revierleiter: Kollege, das ist auf diesem Revier nie vorgekommen. Dann hab´ ich gesagt: Natürlich ist das vorgekommen. Darauf hat er die Brille abgenommen und hat gesagt, ich habe Ihnen gerade gesagt, so etwas ist auf diesem Revier nie geschehen. Ach so, hab` ich gesagt, jetzt habe ich Sie verstanden.


Es werden verschiedene Fälle dargestellt, die unglaubliche Geschichte von Sven durchzieht das Buch in Etappen. Er saß etwas benommen in einer McD-Toilette im Vorraum auf einem Stuhl, als Polizisten hereinstürmten und ihn niederschlugen. Was danach geschah, ist unfassbar: gefesselt, an Händen und Füßen hinausgetragen, in eine Zelle gesteckt und noch einige rechtwidrige Schoten folgen. Es gibt eine Menge Zeugen, Videos. Sven nimmt sich einen Anwalt, als er selbst angeklagt wird, geht selbst juristisch gegen die Polizisten vor. Unter den Zeugen, die für ihn aussagen, ist eine Polizistin und in der ersten Distanz wird er freigesprochen. Der Staatsanwältin gefällt das nicht und sie legt Berufung ein, obwohl der Sachverhalt ziemlich eindeutig ist. Der Richter in der 2. Instanz bittet sie mehrfach, zurückzuziehen, auch noch während der Verhandlung, als er den Vorfall zusammenfasst. Dieses Urteil ist noch eindeutiger, der Richter kritisiert das Vorgehen der Polizei, fragt nach, was die Ermittlungen gegen die Beamten machen. Läuft noch, Vorgang nicht abgeschlossen. Die Staatsanwältin geht in die nächste Instanz. Nachdem auch dieser Prozess durch ist, laufen die Ermittlungen gegen die Polizisten immer noch ... An diesem Fall wird eine Menge im System erklärt. Es wird erklärt, dass in den USA die Staatsanwaltschaft lediglich zur Durchsetzung des Schuldspruchs zuständig ist; anders in Deutschland, wo die Staatsanwaltschaft, nach allen Seiten offen sein muss, ebenso während des Prozesses, gleichfalls den Entlastungen für den Angeklagten nachgehen muss. Hier fragt man sich, weshalb eine Staatsanwältin so penetrant, eben gegen den Rat sämtlicher Richter, weiter auf einen Schuldspruch besteht? Eine Sache, die dem Steuerzahler mächtig Geld gekostet hat. Es geht auch um andere Tendenzen, Rassismus und rechte Gruppen in der Polizei; wie z.B. die interne Chatgruppe von Polizist:innen in NRW, die 2020 aufflog. 


In 96 Prozent der Fälle wird das Verfahren eingestellt. Nur in etwa zwei Prozent der Fälle kommt es zu einer Anklage gegen Polizist:innen (der Rest sind Verfahren, die zum Beispiel bereits wegen fehlender Zuständigkeit ad acta gelegt werden).


In den Reportagen kommen die Opfer zu Wort, deren Zeugen, Polizist:innen, Gerichtsakten werden eingesehen, das System dargestellt. Rechtswissenschaftler und Kriminologen kommen zu Wort, die an dem Thema forschen und fordern, die Struktur in der Polizei zu ändern und sie bieten Lösungen für eine unabhängige Stelle, die dem Landtag zugeordnet ist, an die sich Opfer wenden können, ebenso Polizist:innen, in ihren Revieren gern Ordnung schaffen würden. Ein interessantes Sachbuch, das sich mit einem wichtigen Thema beschäftigt, besonders darum, weil es Lösungen bietet.


Christina Zühlke ist Film-Autorin für die ARD und den WDR. Jan Keuchel ist Redakteur beim «Handelsblatt».



Jan Keuchel und Christina Zühlke 
Tatort Polizei 
Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle –  Ein Report
Sachbuch, Polizeigewalt, Rassismus, Polizeistruktur, Reportage 
Taschenbuch , 219 Seiten
C.H. Beck Verlag, 2021




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder