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Seltsame Sally Diamond von Liz Nugent - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Seltsame Sally Diamond 


von Liz Nugent


Der Anfang: 

‹Entsorg mich mit dem Müll›, sagte er immer. Wenn ich sterbe, kannst du mich einfach mit dem Müll entsorgen. Ich bin dann ja tot, für mich macht das keinen Unterschied mehr.

Als ihr verwitweter Adoptivvater kurz vor ihrem 43. Geburtstag stirbt, nimmt Sally Diamond ihn beim Wort: Sie versucht, ihn mit dem Müll zu verbrennen. So wie er es ihr gesagt hat. Ein Fehler, denn auf einmal interessieren sich alle Leute für die seltsame Frau, die sich gerne taub stellt, wenn sie unter Menschen geht und am liebsten für sich bleibt: Polizei, Nachbarn, Medien – und eine unheimliche Stimme aus einer Vergangenheit, an die sie sich nicht erinnert. Wie kann sie so etwas tun? Ihre Eltern waren angesehene Ärzte in der Kleinstadt.


Wer war ihre Mutter?

Die vierzigjährige Sally ist zunächst menschenscheu, denn sie hat ihr ganzes Leben mit ihren Eltern zurückgezogen im Elternhaus gelebt – die Schule gefiel ihr weniger. Sie hat nie gearbeitet. Man mag meinen, Sally hätte autistische Züge, denn sie ist entwaffnend ehrlich, versteht keine Witze, nimmt alles ernst, Geräusche überfordern sie, und sie ist kontaktscheu. Doch ihr Vater, der seine adoptierte Tochter lange therapierte, ist der Meinung, es liegen ganz andere Gründe vor. Der krebskranke Mann hatte Sally vor seinem Tod drei Briefe hinterlassen – und so erfährt sie von den schrecklichen Geheimnissen ihrer Kindheit, an die sie sich selbst nicht erinnern kann. Ein Psychothriller vom Feinsten, der unter die Haut geht, düster, hochspannend und humorvoll. 


Klasse Noir-Psychothriller mit viel schwarzem Humor

Liz Nugent hat wieder mal ein schräges Buch geschrieben, das zu Herzen geht. Hervorragend blättert sie ihre Protagonistin und alle Nebenfiguren wie eine Zwiebel auf, brennend Schicht für Schicht, schafft stimmige und intensive Psychogramme. Sallys Mutter wurde mit 11 Jahren entführt und über Jahre gefangen gehalten, missbraucht. Und als sie endlich entkommen konnte, wurde Sally zu ihren späteren Adoptiveltern gegeben. Was macht es aus einem Menschen, wenn er jahrelang gefangengehalten wird und was macht es mit den Familien, die hoffen, diese Person wiederzufinden? Dysfunktionale Familien auf allen Ebenen, denn auch der Vater von Sally bestimmt ihr Leben – auf andere Art und Weise: Er liebt seine Tochter, aber parallel behandelt er sie als Fallstudie. Nach seinem Tod ist Sally das erste Mal frei, ein Leben, an das sie sich langsam herantastet. Durch die Hauptfigur, die so entwaffnend ehrlich, liebenswert und einzigartig ist, bekommt die Geschichte einen humorvollen Drive, denn die Stränge der Vergangenheit der Protagonist:innen sind schwarz wie die Nacht. Sally im Jetzt holt den Lesenden mit schwarzem Humor heraus. Ein vielschichtige, bezaubernde, Figur, die man nicht vergessen wird. Abwechselnde Stränge der Protagonist:innen in der Vergangenheit und im Jetzt, aus dem sich ein perfekt gestricktes Psychogramm entwickelt. Ein literarischer Thriller, der nicht loslässt – ich konnte es kaum aus der Hand legen – bis hin zum Ende glaubhaft mit Wendungen austariert. Und wie immer führt uns Liz Nugent eine Weile an der Nase herum … Unbedingt lesen! Klasse Noir-Psychothriller mit viel schwarzem Humor.


Liz Nugent, geboren 1967 in Dublin, hat für irische Radio- und Fernsehsender und für das Theater geschrieben. Bereits ihr erster Roman Die Sünden meiner Väter, erschienen 2013, wurde ein großer Erfolg und Crime Novel of the Year bei den Irish Book Awards. Auch ihre folgenden Bücher Kleine Grausamkeiten (2020), von der New York Times sofort als einer der Most Recommended Thrillers of 2020 gelistet, Auf der Lauer liegen (2022) und Skin Deep (2018) wurden mit Preisen ausgezeichnet und landeten auf den irischen Bestsellerlisten. Ihr neuer Roman Seltsame Sally Diamond (2023, dt. 2024) ist Crime Novel of the Year bei den Irish Book Awards. Nugents Romane erscheinen in fünfzehn Sprachen. 




Liz Nugent
Seltsame Sally Diamond
 
Originaltitel: Stange Sally Diamond, 2023
Aus dem irischen Englisch übersetzt von Kathrin Razum
 Steidl
Hardcover, Leinen, 391 Seiten,
Noir, Noir-Psychothriller, Kriminalroman, Kriminalliteratur, literarischer Thriller, Thriller, irische Literatur
Steidl Verlag, 2024





Auf der Lauer liegen von Liz Nugent

Der erste Satz: 

Mein Mann hatte eigentlich nicht vor, Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient.

Was für ein Anfang! Lydia Fitzsimons korrigiert sich ein paar Seiten später. Gut, ihr Mann hatte die Frau gewürgt und sie war fast am Ende. Er allerdings auch. Drum gab Lydia Annie den Rest, als sie ihr mit der Metallkralle auf den Kopf schlug. Dumm gelaufen. Man lässt sich von so einer nicht erpressen! Wohin nur mit der Leiche? Die Fitzsimons wohnen in einer vornehmen Villa in Dublins bester Gegend. Andrew Fitzsimons ist einen angesehenen Richter. Der große Garten eignet sich optimal zur letzten Ruhe von Annie Doyle. Hoffentlich hat Sohn Laurence nicht mitbekommen, wann sie nach Hause gekommen sind. Wieder ein großartiger Psychothriller von Liz Nugent! Ein glaubhaft konstruierter Plot mit feinen Charakterstudien und einer guten Portion schwarzen Humors. Ein Ritt auf der Rasierklinge auf dem Weg in die Hölle! Ein literarischer Thriller, wie man ihn gerne liest! Hier stimmt alles. Empfehlung!

Weiter zur Rezension:   Auf der Lauer liegen von Liz Nugent


Kleine Grausamkeiten von Liz Nugent

Der erste Satz: 

Alle drei Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg.

Dieser erste Satz ist perfekt und sagt bereits alles aus, was man über diese Familie wissen sollte. Drei gegen einen – wobei immer die Seiten wechseln, so beschreibt der Erzähler, einer der Brüder, das Verhältnis. Der Leichnam war zerschmettert und furchtbar zugerichtet, und es gibt Ermittlungen, erfährt der Leser. Dieser Faden wird erst am Ende wieder aufgenommen und aufgelöst. Die Geschichte einer Dubliner Familie, bösartig, mit toxischen Verbindungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern folgt. Doch letztendlich ist dies ein Familienroman aus dem Show-Buss, nicht Kriminalliteratur. Die Charaktere sind geschickt und glaubwürdig aufgebaut. Man mag keinen dieser Protagonisten, mit Luke hat man Mitleid – aber gerade darum sind die Figuren faszinierend – eine dysfunktionale Familie, die nicht mit dem Messer aufeinander losgeht, aber genauso scharf zusticht. Rette sich wer kann, vor dieser Mutter, einer exzentrischen Sängerin und Schauspielerin. Ein feines Drama! Empfehlung!

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