Direkt zum Hauptbereich

Sekunden der Gnade von Dennis Lehane - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



 

Sekunden der Gnade 


von Dennis Lehane


Der  erste Satz: 

Irgendwann vor Tagesanbruch fällt der Strom aus, und ganz Commonwealth erwacht von der Hitze.


Im September 1974 soll in Boston die Rassentrennung an den öffentlichen Highschools aufgehoben werden. Schüler der Foxbury High School mit afroamerikanischer Schülerschaft sollen mit Busen aus ihrem Kiez zu Schulen in die South Boston High School ins «Commonwealth» kutschiert werden und umgekehrt; Durchmischung ist das Ziel. Aber dagegen wehren sich viele Eltern. Manche aus rassistischen Gründen, andere sehen es als kompliziert, stressig und sinnlos an, die Kinder in andere Viertel zu transportieren. Im «Commonwealth» wohnen hauptsächlich irischstämmige Weiße der Arbeitergeneration. Auf den ersten Blick ist hier die Welt in Ordnung. Jeder kennt jeden, man achtet aufeinander, ist sich gegenseitig behilflich. Doch es gibt einen Kodex, an den sich alle zu halten haben: Rede nie mit der Polizei, egal was passiert! Wir regeln das untereinander! Die 42-jährige Hilfskrankenpflegerin Mary Pat Fennessy wohnt hier. Sie ist eine Aktivistin im Kampf gegen den Schulmix und bereitet sich auf die Demos vor. Ihr erster Mann ist lange verstorben, ihr Sohn hatte sich nach dem Vietnamkrieg mit Heroin vollgepumpt und war an einer Überdosis verstorben, vom zweiten Mann ist sie geschieden. Ihre 17-jährige Tochter Jules ist alles, was ihr verblieben ist. Doch die kommt eines Nachts nicht nach Hause. 


Nach und nach beginnt sie das gesamte System zu hinterfragen


Man petzte nicht. 

Man wandte sich nie von Familienangehörigen ab (auch wenn man sie nicht ausstehen konnte).

Man erzählte keinen Außenstehenden, was im Viertel abging.


Dieses Viertel hat eine eigene Regierung, und deren Oberhaupt ist Mobster Marty Butler. Mary Pat sucht nach ihrer Tochter Jules, befragt die Freunde, die mit ihr unterwegs waren. Schnell bekommt sie heraus, dass sie von allen belogen wird. In der gleichen Nacht stirbt ein schwarzer Junge, in einer Bahnstation in South Boston, in der Nähe des Parks, in dem Jules sich aufgehalten hat. Und dann steht Detective Sgt. Michael Coyne vor Mary Pats Haus, möchte mit Jules sprechen. Ein empathischer Typ, der ihr seine Karte übergibt. Der Ermittler Bobby Coyne ist der Meinung, der schwarze Jugendliche sei nicht von allein vor die U-Bahn gefallen und Jules hätte sich mit ihren Freunden dort aufgehalten. Er will sie als Zeugin befragen. Was war geschehen? Mary Pat sucht weiter nach ihrer Tochter; irgendwas stinkt hier ganz gewaltig. Nun bittet sie Mobster Marty Butler um Mithilfe; schnüffelt gegen seinen Befehl weiter nach Hinweisen und stößt dabei sie auf immer mehr Ungereimtheiten. Mary Pat erfährt ein paar Dinge, die ihr gar nicht gefallen, und sie sinnt auf Rache. Nach und nach beginnt sie das gesamte System zu hinterfragen, versteht, dass ihr Hass, den sie weitergetragen hat, den Hass des gesamten Viertels, zu dem beigetragen hat, was an diesem Abend passierte.


Spannender literarischer Krimi mit authentischen Figuren


Man redet nicht miteinander. So einfach ist das. Ich will keine Scherereien im Leben, wirklich nicht, aber wenn ich so blöd wäre, irgendwelche farbigen Frauen am Mattapan Square anzuquatschen, und ihre Stecher kämen an, dann würde ich verdammt noch mal damit rechnen, dass sie mich windelweich prügeln. Nichts Persönliches. So läuft es nun mal.


Mary Pat ist eine wütende Frau, die so manchen Kerl niedergeboxt hat, die in ihrer Wut rot sieht und keine Gnade kennt. Sie will herausbekommen, wo Jules steckt. So beginnt sie mit Rum, dem Freund ihrer Tochter: «Ronald ‹Rum› Collins … sein Gesicht sieht aus als hätte es jemand zum Golftraining benutzt. Aber Vincent hat Bobby schon darauf hingewiesen, dass das Schlimmste unterhalb der Gürtellinie kommt.» Kinder, die zu Hass erzogen werden, von Generation zu Generation … Auch Mary Pat ist da nicht ausgeschlossen. Eine irische Mafia-Organisation, die ein Viertel voll im Griff hat, von der sich Mary Pat aber nicht einschüchtern lässt. Ein spannender literarischer Krimi mit authentischen Figuren; zwei Ermittlern, die sich kreuzen: eine wütende Mutter und ein Detectiv. Dieser Frau möchte man in ihrem Zorn nicht über den Weg laufen. Und doch empfindet man eine unterschwellige Sympathie für sie, kann sie verstehen. 


Literarisch aufgearbeitete Gesellschaftskritik


Und doch sitzt hier Mary Pat Fennesy vor ihm, gebrochen, aber unzerbrechlich. Das Paradox machte ihm eine Heidenangst.


Dennis Lehane ist irischstämmig, in Boston aufgewachsen, von ständiger Gewalt und Rassenhass umgeben, hat die Kämpfe um die Durchmischung der Schulen selbst erlebt. Er weiß, wovon er schreibt, und das tritt deutlich hervor. Und er kann schreiben! Dies ist nicht einfach ein brutaler Krimi um der Effekte willen, sondern ein Stück literarisch aufgearbeitete Gesellschaftskritik. Eine komplexe Geschichte mit komplexen Charakteren. Ein Noir-Krimi, der mit großer Erzählkunst Hass und Rassismus, Armut und fehlende Bildung beschreibt.


Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für ›The Wire‹ und war Creative Consultant für ›Boardwalk Empire‹. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston. Auszeichnungen:  Shortlist des ›CWA Gold Dagger Award 2018‹ für Since We Fell, 2018,  ›Edgar Allan Poe Award‹ für Live by Night, 2013,  ›Finnischer Krimipreis‹  Kategorie ›International‹ der finnischen Krimivereinigung »Suomen dekkariseur« für sein bisher ins Finnische übersetztes Werk, 2011. Verfilmungen:  The Drop. Bargeld., Michaël R. Roskam, 2014,  Shutter Island, Martin Scorsese, 2010,  Mystic River, Clint Eastwood, 2003



Dennis Lehane
Sekunden der Gnade
Originaltitel: Small Mercies, 2023
Aus dem amerikanischen Englischen übersetzt von Malte Krutzsch
 
Krimi, Hardboiled, Noir-Krimi, Noir, Amerikanische Literatur, Rassismus, Rassenhass, Boston
Taschenbuch, 399 Seiten
Diogenes Verlag, 2023





Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

Rezension - Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris

  Wie ich mein Sternerestaurant zurückließ, in Italien Inspiration für neue Gerichte fand und mich am Ende selbst überraschte Daniel Gottschlich erhielt als erster Koch das Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom – die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstler im Ausland. Ein Koch, als Künstler? Man argumentierte mit dem von Joseph Beuys geprägtem «erweiterten Kunstbegriff», der das Kreative mit dem Künstlerischen gleichsetzt. Tage des Austauschs und der Inspiration, Stunden voller kreativer Eindrücke und künstlerischer wie musischer Erlebnisse. Im Mittelpunkt aber stand: die ausgezeichnete italienische Küche. Neben dem Reisebericht und den Eindrücken gibt es 30 Rezepte. Das erzählende Sachbuch ist eine Mischung aus Reiseliteratur und Kochbuch. Inspirierte Italienische Küche, Kulinarisches der mediterranen Küche, Lieblingsrezepte, Weltküche. Ein gelungenes Buch! Empfehlung! Rezension:   Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans