Rezension
von Sabine Ibing
Schatten der Welt
von Andreas Izquierdo
Auf denn Tod angesprochen, pflegte mein Vater zu sagen, dass alles bloß halb so schlimm sei, wenn man ihm denn nur in einen schönen Anzug entgegentrete. Natürlich, er war Schneider, und seine Einschätzung zeugte von einem gewissen Geschäftssinn, auch wenn er so etwas selbstredend nie vor Kunden gesagt hätte.
Thorn in Westpreußen, 1910, alles beginnt wie eine Lausbubengeschichte: Drei Jugendliche, die hoffen, dass der Ernst des Lebens noch auf sich warten lässt. Eine kleine Gaunerei lässt sie mit den Ängsten der Menschen spielen und mit dem Kometen «Halley» eine stattliche Summe verdienen. Carl, intelligent, klein und zart, zaudernd, immer die Ordnung betrachtend und sein Freund Artur, ein großer, muskulöser Klotz, draufgängerisch, der nicht über die Konsequenzen nachdenkt, wenn er etwas anpackt, treffen auf die unverschämte Isi, die mit allen Wassern gewaschen ist. Eine intensive Freundschaft entsteht. Und mit dem Geld aus dem Geschäft ihres Lebens bauen sie sich eine Zukunft auf.
Feudalwesen zur Jahrhundertwende
Carl!›, begann Artur von Neuem. ‹Verstehst du denn nicht, was da heute Morgen passiert ist?›
‹Wir haben einen Lkw gesehen›, antwortete ich ratlos.
‹Nein, wir haben die Zukunft gesehen!
Eine Welt im Umbruch, 1914, der Erste Weltkrieg bricht herein, der Midpoint der Geschichte. Plötzlich ist alles verloren. Artur und der jüdische Carl werden als Soldaten eingezogen und nach der Ausbildung trennen sich ihre Wege. Jeder muss nun seinen Weg allein gehen, die jungen Männer im Feld und Isi muss sich zu Hause durchschlagen. Ein Coming of Age, das witzig beginnt, die drei Figuren in ihren völlig verschiedenen Lebensbereichen vorstellt, zeigt aber gleichzeitig das Feudalwesen der damaligen Zeit, die Abhängigkeiten der einfachen Menschen.
Ein Gesellschaftsbild der Zeit
Isi hätte schreien können … Männer wie ihr Vater regierten Thorn, sie regierten Preußen, das Deutsche Reich, die ganze Welt. Sie bestimmten die Regeln, die Religion, die Politik, verfälschten Tatsachen, machten Karriere, und wenn gar nichts mehr half, begannen sie Kriege und stürzten die Welt ins Chaos… Was war mit all den Frauen, die in ihren Schatten starben, so leise, dass man nicht mal wusste, dass sie überhaupt gelebt hatten? Zählten sie nicht? Nichts?
Carls Vater ist Schneider, der vor den Herrschaften buckeln muss, so wenig erwirtschaftet, dass es jeden Tag nur Kartoffeln zu essen gibt, selten reicht es zu mehr. Das meiste Geld verdient er mit den Toten, die mit neuen Anzügen ins Grab gelegt werden. Arturs Vater ist ein grobschlächtiger Wagner, ein brutaler Trunkenbold, den die neuen Automobile seinen Job kosten werden. Isis Vater will hoch hinaus, ein Lehrer, der katzbuckelt, über die Politik seinen Aufschwung erfährt. Ein Bild der letzten Kaiser-Ära im Umbruch der Modernen, das Andreas Izquierdo geschickt und bildreich offenlegt. Das Buch hat einen Sog, der hineinzieht, eine Sprache, die trotz aller Grausamkeit des Krieges, Schützengräben, Gefechten, nie völlig brutal wird, da es immer wieder Lichtblicke gibt. Widerstand, militärische Propagandamaschinerie, Nationalismus, Kaisertum, die Herabwürdigung von Frauen und einfachen Menschen, ein aufkeimender Sozialismus, all diese Themen sind atmosphärisch eingebunden. Ein stimmungsvoller Roman, der Leser von historischen Büchern anspricht, aber auch solche, die gern Familiengeschichten lesen. Trotz 544 Seiten ist man schnell mit dem Buch am Ende, denn die Seiten fliegen vorbei in dieser spannenden Geschichte. Ein echter Schmöker.
Andreas Izquierdo ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er veröffentlichte u.a. den Roman «König von Albanien» (2007), der mit dem Sir-Walter-Scott-Preis für den besten historischen Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. Andreas Izquierdo lebt in Köln.
Schatten der Welt
Roman, historischer Roman, 1. Weltkrieg, Coming-of-Age
Broschur, 544 Seiten
DuMont Buchverlag, 2020
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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