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Sandbergs Liebe von Jan Drees - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Sandbergs Liebe 

von Jan Drees


Du darfst nie wieder gehen‹, hatte Kalina gestern am Telefon zu mir gesagt, ›ab jetzt bist du unverzichtbar.

Eine Liebesgeschichte – obsessiv, zerstörerisch. Jan Drees sagt, die Geschichte ist ausgedacht, aber an eine ähnlich gelagerte Liebe aus seinem Leben angelegt. Der Leser sitzt voyeuristisch gefangen im Inneren des Autors und leidet mit ihm die ganze Geschichte lang, denn hier stülpt jemand sein Inneres ganz nach außen. Ist Kristian Sandberg an eine Narzisstin geraten, die ihn wie einen Tanzbär an der Nase durch die Manege zieht? Oder erfahren wir hier nur seine eigene Wahrheit? Es gibt eine Menge Chatverkehr und gehen wir einmal davon aus, dass ein schreibender Typ wie Jan Drees eine Art Tagebuch anfertigt und wir wirklich dicht an der Realität dran sind. Denn solch manipulative Charaktere wie Kalina laufen genug herum.


Die Liebe des Lebens - die einzige

Ich glaube, ich liebe dich – auch wenn es plötzlich ist, beinahe zu früh. 
Ich weiß. Ich glaube, ich liebe dich genauso.

Der wunde Punkt der 30 – die biologische Uhr tickt – jetzt oder nie! Wir alle kennen Menschen, die sich wild in Beziehungen nach dem 30. Lebensjahr stürzen, da sie Angst haben, die Familienbildung ansonsten zu verpassen. Auch Kristian Sandberg hat die 30 längst überschritten, ein Geisteswissenschaftler, der es nun beruflich geschafft hat. Eine Literaturagentur stellt ihn ein, zahlt ein üppiges Gehalt. Eine Beziehung fehlt zum großen Glück. Bisher hatte er eher Pech in der Liebe, er wünscht sich sehnlich: »… nicht mehr suchen, sondern bei jemandem sein möchte, den ich wirklich begehre, für immer.« Er kommt auf die Idee, eine Datingapp zu installieren, wischt sich durch die Frauenwelt – bis er auf die wunderschöne Kalina Mickiewicz stößt, eine 36-jährige Zahnärztin. Und Kalina findet Kristian: Matching, sie verabreden sich. Die Luft um sie beide herum vibriert, wird rosa bis rosenrot und nach zwei Tagen gestehen sich beide, ihre große Liebe gefunden zu haben. Es ist noch kein Monat vergangen, da fragt Kristian: »Wie würdest du reagieren, wenn ich dir einen Heiratsantrag machte?« Kalina antwortet: »Kristian, wenn du mir einen Antrag machen würdest, müsste ich vor Glück weinen.« Man plant die Hochzeit und ein Baby. An dieser Stelle hole ich als Leser das zweite Mal tief Luft. Das ging aber schnell … Und genau das kann nicht gut gehen.

Der Literat und das wohlhabende Mädchen

Über jeden Menschen‹, sage ich, ›gibt es einen Satz, der sein Leben zum Einsturz bringt, einen Satz, den wir aus Höflichkeit verschweigen.

Kalina stammt aus wohlhabenden Verhältnissen, kleidet sich gut und teuer, besucht gern teure Restaurants und Bars, steht auf Statussymbole. Eine Fernbeziehung beginnt. Glas und Chrom, die edle Moderne in Hamburg Eppendorf bei Kalina, jedes Möbelstück ist ausgewählt oder angefertigt, Billyregale und Schraubmöbel in Bremen bei Kristian, eine eher schmuddlige, verstaubte Wohnung. Kalina besitzt eine Zahnarztpraxis in Dänemark und hat eine Eigentumswohnung gekauft, die sich gerade in der Renovierungsphase befindet.

Du liebst mich nicht!

Ich taumle im Unfassbaren. Weshalb werde ich von meiner Freundin immer wieder unter Verdacht gestellt? Ich begreife es nicht. Mein Empfinden für sie entspricht nicht der Art, wie sie es deutet, im Gegenteil, sie wertet es um.

Beide suchen nach der großen Liebe, nach Schutz und Geborgenheit, nach Wärme, nach einem Nest, das sich Familie nennt, denn beide konnten in ihrer Kindheit nicht darauf zurückgreifen. Kalina hasst ihre Schwester, sagt, sie würde sie nicht zur Hochzeit einladen. Die Ärztin ist eine Frau, bei der man jedes Wort auf die Goldwaage legen muss. Sie dreht Kristian das Wort im Mund um, ist rund um die Uhr zickig und beleidigt. Er fragt sich ständig, was er falsch macht, entschuldigt sich ständig. Kalina lässt ihn oft sitzen, weil Kristian sich im Vorfeld wieder mit einem Satz »schuldig« gemacht hat, manipulativ zieht sie alle Register, um Kristian zu erniedrigen. Er möchte gern mal einen Abend mit ihr allein verbringen. Das ist nicht möglich. Ihre Freunde sind immer dabei, grenzen Kristian aber aus, mögen ihn nicht. Auch Kalinas Familie tritt Kristian nicht freundlich gegenüber. Einem Treffen mit Kristians Freunden entzieht sie sich immer wieder und mit ihrer Anbindung an sich und ihr Umfeld isoliert sie ihn von seinen Freunden. Kristian macht in ihren Augen alles falsch und Kalina lässt ihren Freund durch Liebesentzug leiden wie einen Hund. Jede Frau, die mit ihm kommuniziert, ist ein Flittchen. Er soll bei ihr einziehen. Sein Lebenselixier sind Bücher, doch die haben in Kalinas Wohnung keinen Platz. Aber halt! Demnächst geht es doch in die Eigentumswohnung, Kalina redet von unserer Wohnung. Doch an der Planung und Einrichtung lässt sie Kristian nicht teilnehmen. Und wo soll dort das geplante Kind Platz haben?, fragt sich Kristian. Es gibt ein klitzekleines Arbeitszimmer (nur wessen?) … Kalina hat Kristian übernommen, so könnte man es bezeichnen: »Gaslighting« nennt man den Fachbegriff für emotionalen Missbrauch. Denn das geht über das übliche Verhalten eines Narzissten hinaus. Der Narzisst will stets bewundert werden, hat immer recht, nie Schuld, bestimmt. Das Prinzip ist hier nicht anders, aber beim Gaslighting geht es noch tiefer: Der Täter verletzt das Opfer emotional, solange, bis es psychisch am Boden zerstört ist. Ich liebe dich – ich hasst dich im stündlichen Wechsel – ich kann dir nicht vertrauen, weil ich dir deine Liebe nicht abnehme – beweise es! Das hat schon was vom Borderliner.

Was würde Kalina sagen?

Ich wollte Dir etwas von meiner Leidenschaft zeigen. Es war ein Versehen, ich habe vor Jahren von einer Ex-Freundin gesagt bekommen, wie sehr das den Orgasmus ins Unendliche potenziert.
Doch es gibt einige Stellen in diesem Roman, an denen ich Sandberg nicht als Opfer wahrnehme. Von Anfang an suchte er die »Endgültige«. Wie stark ist seine besitzergreifende Art, fragt man sich. Kalina beschwert sich mehrfach, dass Sandberg gewalttätig sei. Er streitet es ab, an manchen Stelle gibt er Gewalt zu, entschuldigt sich aber mit seiner Leidenschaft, z. B. als er Kalina beim Sex würgte, oder er sagt, ein Schubsen sei nicht schlimm gewesen, es war nur ein Stupsen. Das Buch beginnt mit einem schwer depressiven Sandberg, der sich auf Teneriffa mit Psychopharmaka zudröhnt, eine Auszeit von einem halben Jahr nimmt. Von der tiefen Depression, die nicht ausgeheilt ist, rast er, zurück in Bremen, im Sturzflug in die Beziehung … Kalina wird auf die Tabletten aufmerksam und hält Kristian einen Vortag als Ärztin. Andererseits ist ein solcher instabiler Mensch das perfekte Opfer. Ein stabiler Mensch hätte Kalina mit hoher Wahrscheinlichkeit nach drei, vier Tagen – oder schon am ersten Tag – den Laufpass gegeben. Wie auch immer. Man verschlingt den Roman, hält die Luft an – unglaubliches geschieht. Jan Drees schreibt fast im Tagebuchstil über seine große Liebe, über eine hochtoxische Beziehung. Vielleicht gibt es irgendwann unter Pseudonym den Roman »Ich war Kalina« – Man erinnere an den Märchenprinzen ...

Jan Drees ist seit 2016 Moderator der Literatursendung Büchermarkt und Redakteur in der Deutschlandfunk-Buchredaktion. Er hat Reportagen, Features und Rezensionen unter anderem für MDR Kultur, 1LIVE, Bayern 2, die FAZ und den Rolling Stone verfasst. Jan Drees lebt und arbeitet in Köln.

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