Rezension
von Sabine Ibing
Zeiten der Heuchelei
von Petros Markaris
Der Anfang:
Der Abstand zwischen den beiden Türen beträgt circa zehn Meter. Dafür braucht sie genau zwanzig Schritte. Schon seit zwei Stunden macht sie dieselben zwanzig Schritte von hier nach da, während ihr Blick bei jeder Kehrtwendung zur Tür gegenüber springt.
Kostas Charitos Familie steht unter Hochspannung. Alle stiefeln im Krankenhaus den Flur auf und ab. Endlich ist er da! Das ersehnte Enkelkind hat die Welt erblickt. Man ist gerade in Feierlaune, als ein ohrenbetäubender Knall den Ort erzittern lässt. Eine Detonation. Kurz darauf klingelt bei Kostas das Telefon. Man hat ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft in die Luft gejagt. Der Besitzer einer Hotelkette war beliebt, ein tadelloser Bürger, der seine Steuern zahlte, sogar eine Stiftung betrieb, die armen Studenten günstigen Wohnraum stellt. Wer mag solch einen guten Menschen ermorden wollen? Bald kommt ein anonymes Bekennerschreiben. «Das Heer der nationalen Idioten»behauptet, der Tote soll ein Scheinheiliger gewesen sein. Und er wird nicht der Erste auf der Liste der Heuchler sein, der ins Gras beißen muss.
Das kranke System
Erkenntnisse wäre zu viel gesagt. Die bisher vorliegenden Hinweise zeigen jedoch, dass wir es nicht mit gängigen Terroristen zu tun haben. Die Täter müssen über fünfzig sein. Darauf deutet die Schönschrift hin.›
‹Alle Terroristen über fünfzig sitzen im Gefängnis›, bemerkt unser Minister.
Eine aktuelle Geschichte, die nicht nur in Griechenland spielen könnte ... Zunächst geht die Ermittlung Richtung Steuerbetrug und Offshorekonten. Doch dann wird Stück für Stück das korrupte System aufgedeckt. Langjährige, gutbezahlte Mitarbeiter werden mit Tricks gekündigt, erhalten in ihrem Alter keinen neuen Job mehr. Ersetzt werden sie durch junge, unterbezahlte Leute mit Teilzeitverträgen oder Zeitarbeitersklaven. Zusätzlich wird noch hier und da getrickst, korrumpiert. Angestellte erhalten ihren Lohn nur schleppend in Raten, oder auch mal gar nicht; Renten werden gekürzt. Das einfache Volk kommt kaum mit dem Verdienst um die Runden und große Unternehmen packen sich die Taschen voll. Der Staat mittendrin mit geschönten Statistiken – wer offiziell zwei Stunden am Tag arbeitet, ist ja nicht arbeitslos.
Uns werden die Renten gekürzt, und diejenigen, die durch ihre Steuern unsere Renten finanzieren sollten, finden immer einen Schlupfweg, billig davonzukommen. Meine Rente ist auf vierhundert Euro gesunken. Davon gebe ich meinem Sohn noch etwas ab, damit er nicht hungern muss. Und ich bin im Obdachlosenheim gelandet.
Unaufgeregt mit viel Lokalkolorit
Der Grieche ist ein Familienmensch, das kommt in diesem Krimi nicht zu kurz. Und es gibt eine Menge Wiederholungen. Gemächlich, doch nicht ohne Spannung treibt der Plot voran. Unaufgeregt mit viel Lokalkolorit blättert sich ein gefräßiges System auf, bei dem nur wenige die Gewinner sind. Das nicht nur in Griechenland. Schon dass macht diese Geschichte lesenswert. Griechenlandfans werden diesen Kriminalroman lieben, der stilistisch gekonnt, mit einer Portion subtilen Humors ein Lesevergnügen ist – auch wenn er sich streckenweise ein wenig dehnt.
Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der neunziger Jahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter u. a. den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen. Er erhielt 2019 den ›Premi a la trajectòria literària‹ des El Segre de Negre Literaturfestivals, den Lleida in Katalonien, 2019 den ›Premi Cubelles Noir‹ für die Krimifigur Kostas Charitos des Gènere Negre del Garraf Festivals in Barcelona, 2019 den ›Premio Contea di Bormio‹ des La Milanesiana Festivals, Bormi., 2016 die Ehrendoktorwürde der Aristoteles Universität Thessaloniki in der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie, 2014 das ›Bundesverdienstkreuz 1. Klasse‹, verliehen in Athen vom Deutschen Botschafter, 2011 den ›Raymond Chandler Award‹ beim italienischen Film- und Literaturfestival ›Courmayeur Noir‹ für sein Lebenswerk, 2005 den Deutscher Krimipreis, 3. Platz in der Kategorie International.
Zeiten der Heuchelei
Krimi, Kriminalroman, Griechenland
Übersetzt aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger.
Diogenes Verlag, 2020
398 Seiten
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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