Empfehlung - eher keine Rezension
von Sabine Ibing
Philosophisches Taschenwörterbuch
von Voltaire
Was schuldet ein Hund einem Hund und ein Pferd einem Pferd? Nichts, kein Tier hängt von seinesgleichen ab. Doch der Mensch wurde von einem Strahl göttlicher Weisheit erleuchtet, den man Vernunft nennt, und was hat ihm das eingebracht? Dass er fast auf der ganzen Welt versklavt ist. (Égalité - Gleichheit)
Dieses Buch wird nicht rezensiert – es wird schlicht von mir empfohlen, überhaupt, was soll man ein Wörterbuch rezensieren. Aber Vorsicht! Es ist ein Giftschrank, denn als Voltaire 1764 sein Philosophisches Taschenwörterbuch anonym veröffentlichte, wackelte er an den damals kirchlich geprägten Pfeilern Welt. Bereits der Titel ist Provokation! Taschenwörterbuch, na ja, in meine große Handtasche passt es hinein. Philosophisches Wörterbuch, nun, es ist immerhin von A bis Z geordnet. Voltaire war zeitlebens ein Provokateur und Aufklärer, einer, der die Freiheit und die Vernunft hochhielt und er war seiner Zeit weit voraus. Die Sprengkraft dieses Buchs liegt in seiner Abrechnung mit Dummheit, Fanatismus, Borniertheit und Intoleranz, insbesondere mit dem christlichen Glauben – nicht zu verwechseln mit Unglauben. Zum Schlagwort «Christianisme – Christentum» zweifelt er Joseph als Vater von Jesus an – was er belegt, überhaupt zweifelt er an, ob Jesus eine Kultfigur gewesen sei. Er habe die wichtigen Schriftsteller und Historiker aus dieser Zeit studiert,
... jedoch sagt er kein Wort, weder über das Leben noch den Tod von Jesus, und dieser Historiker, der keine der Grausamkeiten des Herodes verschweigt, spricht überhaupt nicht von dem Kindermord, den dieser auf Grund der ihm übermittelten Nachricht, dass ein König der Juden geboren worden sei, befohlen hatte. ... Erwähnt nirgendwo den neuen Stern, der nach der Geburt des Heilands im Orient aufgegangen war.
und fand nirgends eine Erwähnung seiner Existenz, Wunder, Verehrung oder etwas zum Ableben von Jesus. Er geht hier ganz emotionslos mit Logik zur Sache: Forschung, Gegenüberdarstellung der Berichte in den Evangelien – wobei es eine Menge Widersprüche gibt, einiges ist unlogisch nicht zu erklären. Niemand hatte es bisher gewagt, die Kirche offen anzugreifen. Eine derart niederträchtige Schrift war den Hochheiligen noch nicht vorgekommen. Und so kam es, dass dieses Buch ein Jahr später öffentlich in Paris verbrannt wurde. Es war sogar verboten, es zu besitzen! Mit diesem Giftschrank im Haus lebte es sich gefährlich, wie Chevalier de La Barre erfahren musste, der wegen des Besitzes 1769 in Abbéville auf dem Scheiterhaufen samt seines Philosophischen Taschenwörterbuchs verbrannt wurde. Trotz aller Kritik ist Voltaire kein Ungläubiger, und der Meinung, dass Religion für die Menschen wichtig sei, sie brauchen einen «rächenden Gott», der das Böse bestraft, um dem Verbrechen Einhalt zu gebieten.
Soll man das Volk mit frommem Betrug hinters Licht führen?
Der Fakir Bambabef traf eines Tages einen Schüler von K`ung-fu-tze, den wir Konfuzius nennen, ud dieser Schüler hies Wang. Bambabef behauptete, dass das Volk den Betrug brauche, und Wang hielt dagegen, dass man niemals jemanden betrügen dürfe.» (Fraude – Betrug)
Doch es geht bei diesen Schlagwörtern nicht ausschließlich ums Klerale. Âme – Seele, Amitié – Freundschaft, Amour – Liebe Amour, nommé Socratique – Sokratische Liebe (Homosexualität), Amour propre – Eigenliebe, Bornes de l’esprit humain – Die Grenzen des menschlichen Geistes, Caractère – Charakter, États, Gouvernements – Staats- und Regierungsformen, Matière – Materie, Méchant – Böse, Sensation – Sinnliche Wahrnehmung, Tirannie – Tyrannei, Tolérance – Toleranz sind andere Schlagwörter. Unter Fraude – Betrug ist ein Streitgespräch zwischen Konfuzius und Wang wiedergegeben, bei dem es um den Betrug am Volk geht. Auf Deutsch ist dieses Werk nie vollständig übersetzt erschienen – nun endlich, mit Verspätung bei Reclam. Die Schlagworte sind von A-Z in der französischen Fassung gegliedert, die Übersetzung folgt im Titel, man kann über das Inhaltsverzeichnis zunächst das heraussuchen, was am meisten interessiert. Es ist natürlich kein philosophisches Taschenwörterbuch, sondern ein Buch gegen Dummheit und Aberglauben – auch wenn es eine Menge philosophischer Anteile besitzt. Voltaire lebte in der Zeit der Aufklärung, des Wandels, unter dem Schlagwort «Gleichheit» wird die Klassengesellschaft beklagt und «Tugend» ist das «was zum Wohle der Gesellschaft beiträgt».
Fanatismus verhält sich zum Aberglauben wie der Fieberwahn zum Fieber, wie der Wutanfall zum Zorn. Wer Ekstasen hat, Wahnvorstellungen, wer Traumbilder für Realität nimmt und seine Einbildungen für Prophezeiungen, ist ein Enthusiast, wer seinen Irrsinn mit Mord verstärkt, ein Fanatiker.« (Fanatisme – Fanatismus)
Voltaire hat bis heute seinen Reiz nicht verloren und diese Übersetzung lässt sich einfach lesen. Seine beißende Ironie, gleichzeitige Tiefgründigkeit, machen die Texte zum Lesevergnügen. Man muss dieses Buch nicht am Stück lesen – es macht allerdings Spaß! Eins, das bis heute in seinen Werten überlebt hat, eins das überrascht, das zum Grübeln anregt. Muss man haben – so meine Meinung.
Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet; 21.11.1694 Paris – 30.5.1778), französischer Schriftsteller und Philosoph, gilt als einer der herausragenden und produktivsten Akteure der Aufklärung. Der Sohn eines Notars ging auf ein Jesuitenkolleg und studierte ab 1711 Jura. Entgegen dem Willen seines Vaters, der eine juristische Laufbahn für Voltaire vorgesehen hatte, wurde Voltaire Schriftsteller. Wegen seiner Spottverse auf Philipp II. wird er 1717 inhaftiert und verbringt elf Monate in der Bastille. 1726 bis etwa Anfang 1729 lebt er in England im Exil, wo er die Lehren John Lockes und Isaac Newtons kennenlernt, die sein Denken stark prägen. Voltaire wird als großer Freigeist und feingeistiger Denker ebenso verehrt, wie er wegen seiner Polemik und Streitbarkeit verhasst ist. Eine kirchliche Beerdigung in Paris wird dem Kirchengegner verwehrt. Mit viel List gelingt Verwandten eine Beisetzung in der Abtei von Sellières. 1791 wird Voltaire ins Panthéon nach Paris überführt. Voltaire verfasste über 700 Texte, darunter Dramen (Ödipus, Cäsars Tod, Der Fanatismus oder Mohammed der Prophet), Epen (Die Liga, Die Henriade), Gedichte (Gedicht über die Katastrophe von Lissabon, Zadig oder Das Schicksal) und Prosa (Candid oder Die Beste der Welten, Der Freimütige). Das in diesen Texten maßgebliche humanistische Gedankengut formuliert Voltaire in seinen 1833 erstmals erscheinenden Lettres philosophiques (dt. Philosophische Briefe) als offenen Angriff auf Kirche und Staat. 1756 beendet Voltaire seine siebenbändige Universalgeschichte Essai sur les moeurs et l`esprit des nations, depuis Charlemagne jusqu`à nos jours (dt. Über den Geist und die Sitten der Nationen). In seinem Dictionnaire philosophique portatif (dt. Philosophisches Taschenwörterbuch) aus dem Jahr 1764 präsentiert Voltaire mit beißendem Zynismus eine vorläufige Zusammenfassung seiner philosophischen, naturwissenschaftlichen und sozialpolitischen Ideen. Sein Credo Écrasez l’infâme (dt. Zerschmettert alles Niederträchtige) wurde zum Motto der Aufklärung und ist heute ein Emblem für Meinungsfreiheit und Toleranz. Die große Wertschätzung des Philosophen in Frankreich lässt sich anhand der französischen Bezeichnung für das 18. Jahrhundert erkennen: Dort heißt es ›Le siècle de Voltaire‹ (›Das Jahrhundert Voltaires‹).
Hier erfahrt ihr wissenswertes über Voltaire: YouTube-Voltaire

Philosophisches Taschenwörterbuch
Nach der Erstausgabe von 1764 erstmals vollst. ins Deutsche übers. von Angelika Oppenheimer
Nachw. von Louis Moland, Hrsg. von Rainer Bauer
Halbleinen, Fadenheftung, Lesebändchen. Format 12,5 x 20,5 cm, 444 Seiten
Reclam Verlag 2021
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Romane
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