Rezension
von Sabine Ibing
Noch alle Zeit
von Alexander Häusser
Der Anfang: Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas in dem Raum hatte sich verändert. Edvard stand im Türrahmen seiner Mutter.
Edvard Mellmann, der eine Protagonist des Romans, um die sechzig Jahre alt, muss seine Mutter beerdigen. Der Vater verstarb, als er noch ein Kind war. Er hat ihn in guter Erinnerung: Ein Flieger aus dem 2. Weltkrieg, ein Mann der immer gut gelaunt war, der damals über die Trödelmärkte Europas zog, um Schätze zu finden, die er gewinnbringend weiterverkaufen konnte. Und er liebte Norwegen – darum Edvard mit v. Die Mutter arbeitete in einer Streichholzfabrik, Edvard ist Klavierlehrer. Sie haben gerade so viel Geld zur Verfügung, dass sie durchkommen, müssen jeden Pfennig zweimal umdrehen. Nicht mal für Reparaturen am Haus ist Geld zurückgelegt. Edvard und seine Mutter – eine Symbiose. Edvard hätte gern Lina geheiratet, seine Jugendliebe. Aber Mutter mochte sie nie – und Mutter war lange Zeit krank, sie hatte die »Automatenkrankheit«. Drum war Edvard ihr verpflichtet. Lina mochte nicht warten.
Er aß das letzte belegte Brot, die Gurkenscheiben, das hartgekochte Ei und zwei Müsliriegel und warf die leere Tüte in den Abfalleimer. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Mit dem Tod seiner Mutter öffnet sich die Büchse der Pandora. Edvard findet ein Sparbuch, das auf seinen Namen lautet: In Norwegen wurde jahrzehntelang Geld für ihn überwiesen, auch noch, als er längst erwachsen war. Warum hat die Mutter ihm das verheimlicht? Davon hätte man die Reparaturen am Haus bezahlen können! Ist sein Vater gar nicht verstorben? Lebt er vielleicht in Norwegen? Edvard lässt sich das Geld auszahlen und macht sich auf nach Norwegen, um seinen Vater zu suchen, um sich selbst zu suchen. Nach und nach steigen Puzzleteile aus der Erinnerung auf.
Hinter dem Deich begann das Nichts, und seine Leere sah schwarz durch alle Fenster, zog an Edvard, drang in ihn ein. Und er war von dieser uferlosen finsteren Einsamkeit erfüllt, die vor aller Zeit war, älter als der Fluss und tiefer als das Meer.
Unterwegs trifft Edvard auf die Berliner Journalistin Alva, die eine Reportage über Magische Orte produzieren möchte und diese Orte in Norwegen erkunden will, sie will Fotos für die Präsentation schießen. Verkorkstes Muttersöhnchen im braunen Schlafanzug mit selbstgeschmiertem Butterbrot trifft auf eine junge Journalistin, die in der Krise steckt, sich ihrer Abhängigkeiten entledigen will. Der Leser begleitet Alva schon im Vorfeld, die zweite Protagonistin. Auch sie hat ein Päckchen zu tragen: Sie mag nicht Mutter sein – sie hat Mann und Tochter verlassen. Sie will nicht abhängig sein, weder finanziell, noch emotional, noch will sie andere Dinge tun müssen, um einen Job zu erhalten. Ihre Gefühle gehen hin und her.
Der Wind kämmte die Gräser seidig. Sie fuhren an grünleuchtenden Berghängen vorbei, am Himmel entlang, im Granit eingeschnitten auf endlosen Serpentinen immer höher hinauf, immer weiter, ohne Zeit, mit aller Zeit.
Zwei Protagonisten, die mit ihrem Leben hadern. Die junge Alva, die nicht weitermachen will, wo sie steht, sich selbst nicht versteht, einen neuen Weg sucht – und Edvard, der feststellt, er wurde belogen, aber nicht nur das, er wurde am Leben gehindert, fest verkettet mit seiner Mutter. Alexander Häusser schreibt Prosa pur. Spurensuche, in sich gehen, Erinnerungen, Gefühle. Der Autor dringt tief in seine Protagonisten ein, in ihre Seelen, in ihre Erinnerungen – lässt sie zweifeln, erkennen. Der Roman ist in einer poetischen Sprache gehalten, die der Geschichte einen Rahmen gibt. Alva und Edvard, jeder für sich und ein Stück gemeinsam des Wegs, gemeinsame Stütze. Worte lassen Gefühle kippen, lassen Gedanken verdichten. Ein schöner Roman für den Sessel am Kamin.
Alexander Häusser, geboren 1960 in Reutlingen, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen; darunter den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Sein Roman »Zeppelin!« wurde verfilmt und lief bundesweit in den Kinos. Häusser lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Alexander Häusser
Noch alle Zeit
Pendragon Verlag
278 Seiten, Hardcover
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