Rezension
Sabine Ibing
Menschliche Dinge
von Karine Tuil
Du hast ein für alle Mal beschlossen, dich selbst zu akzeptieren und kein Opfer zu sein. Dein Mann ist oft weg und wenn er da ist, umgibt er sich mit immer jüngeren Frauen, aber du weißt, dass er an dir hängt. Clair, die den Medien gegenüber unentwegt auf ihre Unabhängigkeit pochte, unterwarf sich privat mit allen möglichen gesellschaftlichen Geboten: Begnüge dich mit dem, was du hast.
Die französische Familie Farel ist bedeutend, das Ehepaar hat Einfluss und Macht: Jean Farel ist ein prominenter Fernsehjournalist, der allabendlich Politiker interviewt, vom Präsidenten den Orden des Großoffiziers der Ehrenlegion erhält. Seine Frau Claire ist eine intellektuelle Schriftstellerin, die für Magazine schreibt, Bücher herausgibt, sich dabei feministisch engagiert. Ihr Sohn Alexandre ist ein Vorzeigekind, brav, intelligent, sportlich und gutaussehend; nach Spitzenleistung in den Eliteschulen studiert er nun an einer Elite-Uni in den USA. Eine Bilderbuchfamilie nach außen. Jean, der eigentlich John heißt und aus prekären Verhältnissen stammt, pflegt seit Jahrzehnten eine Liaison mit der gleichaltrigen Journalistin Françoise; und er steht auf junge Frauen, die reihenweise seine Betten durchwandern, um sich berufliche Chancen zu sichern. Claire kann Jean schon lange nichts mehr abgewinnen, sie ist dreißig Jahre jünger als der über Siebzigjährige, sie ist seine zweite Ehefrau. Aber beruflich stehen die beide in einer gesellschaftlichen Abhängigkeit. Sie stürzt sich später in eine Affäre mit dem verheirateten jüdischen Lehrer Adam, selbstverständlich völlig diskret. Doch bald wird mehr aus der Sache. Adam trennt sich von seiner Frau, verliert seinen Job und er zieht mit Claire zusammen. Alexandre ist schockiert über diese merkwürdige Verbindung. Offiziell sind Jean und Clair ein glückliches Paar, sie begleitet ihn zu allen öffentlichen Auftritten.
Das Familienbild bekommt Risse
Man muss so tun, als wäre man einander herzlich zugetan, dabei würde man am liebsten die Anwesenden einzeln packen, in ihr ursprüngliches Umfeld zurück verpflanzen und ungeschehen machen, was sie durch ihren Egoismus und ihre Leichtfertigkeit zerstört haben.
Bis zur Mitte des Romans geht es um das Doppelleben der Familie, getrieben von beruflichem Ehrgeiz, gesellschaftlicher Anerkennung. In der Mitte wendet sich die Geschichte in einen Gerichtsthriller. Eines Tages steht die Polizei vor der Tür von Jean; Sohn Alexandre steht unter Anklage, Adams Tochter Mila nach einer Party hinter Müllcontainern vergewaltigt zu haben. Karine Tuil wechselt nun zu einer realistischen Gerichtsverhandlung: Anklageschrift, polizeiliche Protokolle, Zeugenbefragungen. Der «Stanford-Fall» hat sie zu diesem Buch inspiriert. 2016 endete ein Prozess in den USA, bei dem es um eine Vergewaltigung an der Stanford University ging. Ein 21 Jahre alter Student aus bestem Hause, der auf einer Verbindungsparty eine junge Frau vergewaltigt hatte, erhielt nur sechs Monate Haft, wurde bereits nach drei Monaten entlassen, was große Empörung auslöste.
Die eine Sicht der Situation
Karine Tuil macht es sich nicht einfach. Zunächst erlebt der Leser die Perspektive von Alexandre, der sich keiner Schuld bewusst ist. Gut, sagt er, er war ein Mistkerl, er habe sich schuftig verhalten. Es ging ihm nicht um eine Beziehung, sondern lediglich um eine Challenge. Die Aufgabe war, ein ihm zugewiesenes Mädel flachzulegen, als Beweis ihren Slip mitzubringen. Er hatte ihr Alkohol eingeschenkt, war selbst betrunken, sie hatten ein Tütchen geraucht, aber sie hat nie Nein gesagt. Er dachte, sie wolle den Sex, es war einvernehmlich. Normal sei es doch so, dass ein Mädchen Nein oder Ähnliches sagt, die Hand wegschiebt, den Jungen von sich schiebt, dann wisse man Bescheid und muss aufhören. Leider habe er mit der Challenge geprahlt, den Slip einkassiert – klar, sie hatte angefangen, zu weinen, und er hat sie stehengelassen, ist zurück zur Party, das war großer Mist.
Eine andere Wahrnehmung
Es ist sicher kein Zufall, dass zu den von ihnen hochgeschätzten Autoren Romain Gary zählt, der mit «frühes Versprechen» die Liebeserklärung geschrieben hat, die Sie, wären Sie mit einem ähnlichen Talent gesegnet, so gern ihrer Mutter gemacht hätten ...
War es wirklich so? Für Alexandre steht die berufliche Karriere auf dem Spiel, sein Studium in den USA. Mila erzählt eine andere Geschichte. Sie stammt aus einer jüdisch-orthodoxen Familie. Besonders die Mutter bewacht die Schwestern, achtet auf Kleidervorschriften. Nach der Scheidung war sie mit den Töchtern in die USA gezogen, hatte neu geheiratet, lebe religiös noch strenger, hatte einen Heiratsvermittler beauftragt, der für Mila einen Mann suchen soll. Mila war gerade mit Volljährigkeit dem religiösen Korsett entsprungen, zu ihrem Vater zurück nach Paris gezogen. Sie kennt sich nicht aus mit Verhaltenscodes unter Jugendlichen, erotischer Dirty Talk ist ihr nicht bekannt, ebenso wenig wie Alkohol und andere Drogen. Sie wollte auf der Party aber auch nicht als spießige Spaßbremse fugieren. Aber sie habe klar signalisiert, dass sie das alles nicht will ...
Das Opfer wird in der Tiefe vernachlässigt
«Warum haben Sie eingewilligt, mit Monsieur Farel erst auf die Straße und dann hinter die Müllcontainer zu gehen?›
‹Weil mir schlecht war. Wir sind nur hingegangen, um etwas zu rauchen, ich habe ihm vertraut.»
Eine Situation – zwei Personen, zwei Wahrnehmungen. Was ist wirklich geschehen und wie ist das alles zu werten? Eine Menge Zeugen kommen zu Wort, decken einiges über das Leben der beiden Protagonisten auf – und auch über die Situation. Alexandre, der charmant, gebildet und reuig wirkt, erzählt eine Menge über sein Leben, in dem es ihm materiell an nichts gefehlt hat – jedoch völlig die Zuwendung seiner Eltern. Wie werden Jean und Claire Farel das wegstecken, deren Privatleben im Gerichtssaal aufgeblättert wird? Wie soll sich Claire positionieren, die bisher für die Rechte der Opfer eingetreten ist. Schadet es dem alten Jean, dessen Job auf wackligen Beinen steht? Was mir in diesem Roman allerdings gefehlt hat, war Mila. Oberflächlich erfährt man etwas über ihre Familiengeschichte und ihre Aussage vor Gericht zeigt ihre Sicht der Situation. Die Autorin geht aber nicht tief in diese Figur hinein. Es geht immer um Jean und Clair. Andererseits – das ist das Problem von Alexander. Ich hätte mir ein bisschen mehr Tiefe für das Opfer gewünscht.
Machtverhältnisse
Die Frage, die dieser Roman stellt: Wann ist ein Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau einvernehmlich, wann handelt es sich um eine Vergewaltigung? Grauzonen, Machismo, Machtverhältnisse, Trophäensammler, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, der Wert einer Frau – Respekt vor Frauen. Was läuft schief in der Kommunikation zwischen Mann und Frau? Es geht aber auch um die Machtverhältnisse zwischen privilegiert und nicht privilegiert. Hätte sich ein Unterschichtsjunge vor Gericht so gut verkaufen können? Insgesamt ein wirklich guter Roman, eindringlich geschrieben, wortgewaltig und lesenswert! Karine Tuil schafft es, einen Satz über eine ganze Seite hinzuziehen, ohne dass es dem Leser auffällt – schon gar nicht nervt. Das ist die Kunst des Schreibens!
Karine Tuil, geboren 1972, Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher, darunter der Roman «Die Gierigen». Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman «Die Zeit der Ruhelosen», der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Karine Tuil lebt mit ihrer Familie in Paris.
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Originaltitel: Les Choses humaines
Aus dem Französischen übersetzt von Maja Ueberle-Pfaff
Roman, zeitgenössische Literatur, Gerichtsthriller, Französische Literatur, #metoo
Gebunden, 384 Seiten
Claassen Verlag, Berlin 2020
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